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Malerei.
Die
stämme kommen bekanntlich niemals über diese Fratzenbildung beim
Zeichnen hinaus; sie lernen nie von der Natur. Ein unberechenbar
wichtiger Schritt ist gethan, sobald man diese zu vergleichen und
genauer nachzubilden anfängt; es sind dann eigentlich alle Schranken
gefallen, die den Weg zur wahren Kunst verschlossen. Auf Darstellung
der Bewegung im Gegensatz zu der Ruhe der Plastik wird die Malerei
von Anfang an verfallen. Hier hindert keine Schwere, hier bricht kein
Material oder muss gestützt werden, wie in der Sculptur; 0b der Arm
hängt oder vom Leibe abgehalten wird, 0b die Beine schreiten, 0b sie
in der Luft schwebend, springend dargestellt sind, oder nebeneinander
stehen, ist für den Zeichner ganz gleichgültig. _Wenn der plastische
Bildner wohl Arme und Beine fortlässt und eine Herme bildet, oder
wenn er seine Statuen sitzend mit angeschlossenen Armen und regel-
mässig vor sich gestellten Beinen meisselt, so wird im Gegentheil der
Zeichner seinen Menschen meistens schreitend gleichgültig wie steif
darstellen und wird selten unterlassen, die Arme in Bewegung zu
zeigen. Seine Unbeholfenheit wird ihn erst recht dazu antreiben. Er
weiss, der Mensch hat zwei Arme und zwei Beine; er wurde glauben,
seine Zeichnerei sei sehr mangelhaft, wenn er etwa einen Arm verdeckt
durch den Körper darstellte oder wenn ein Bein hinter dem andern
nicht sichtbar wurde. Die Frage jedes Kindes in ähnlichem Falle: hat
der Mensch nur ein Bein? wo ist der andere Arm? gilt für diese Stufe
allgemein. Daher sehen wir bei den Plankenzeichnungen unserer
Strassenjugend so gut wie auf den ägyptischen und griechischen
Reliefs jene Stellung so beliebt, die den Oberkörper gedreht erscheinen
lässt und die volle Brust mit beiden vollständigen Armen bei vorwärts-
schreitenden Beinen zeigt. Die Gegenstände werden nebeneinander und
hintereinander dargestellt, auch übereinander, wenn es gilt, eine Tiefe
des Gemäldes zur Anschauung zu bringen. Das Relief des Flussüber-
gangs (Seite 346) veranschaulicht uns diese Manier, welche die noch
nicht gefundene Perspective ersetzen, die noch nicht recht verstandene
ergänzen muss. Ausgeschlossen ist bei einer solchen Darstellung kein
sichtbarer Gegenstand. Alles Sichtbare im Raum, das Form oder Farbe
zeigt, kann Objectsein. Eine Beschränkung, wie beim Plastischen,
hemmt nicht. Eine grosse Feinheit, Kraft, Innigkeit der Zeichnung ist
schon jetzt möglich, wie Vieles auch noch zur wahren Malerei fehlen
mag; daneben der trelflichste Geschmack für die Harmonie der Farben,
wie für deren einzelne Schönheit. Im Allgemeinen wird ein plastisches
Element vorherrschen; die Gegenstäudekönnen wohl harmonisch zu
einander gestimmt sein, aber zum Verschmelzen, zum Zusammengehen
des Ganzen sind die Wege doch noch nicht gefunden.
Zeichnen, vielleicht schon ein vortreffliches Zeichnen mit durchaus
richtigen, rund empfundenen, plastischen Linien, und Anmalen, bilden
die Kunst auf dieser Stufe. Aber erst, wenn der Künstler die Körper-