358
Die Bildnerei.
verschlinge. So schuf er ihm Glieder, die nicht blos für den eifrigen
Rächer des Juden an dem Aegypter passen, sondern von einer so furcht-
baren Kraft strotzen, dass man meint, er könne Jehovah's entbehren,
um alle Widersacher zu zermalrnen. Und wenn er Christus in der
Sixtina malte, so malte er nicht die Gestalt des Leidenden am Kreuze,
sondern er schuf den Gott, der als Mensch ergrimmt mit Drauen und
Geisselhieben den Tempel von den Unsaubern und Schacherern gerei-
nigt hatte. Es hielt sich Michelangelo an's Körperliche; die meisten
Künstler mühten sich darin ab, eine stille seelische Tiefe der Empfin-
dung in der Bildnerei wiederzugeben. So bewunderungswürdig darin
auch viele Leistungen sind, so konnte bei einer solchen Auffassung
doch für die Plastik keine solche reiche Entwickelung gewonnen werden,
als dies bei der das Menschliche und Geistige verschmelzenden Weise
der Griechen möglich war. Die Götter- und Heroenwelt ist zu bekannt,
als dass' ich nöthig hätte, weitläufig auseinanderzusetzen, wie nun die
Fülle der göttlichen Gestalten in ihrer idealen Schönheit der Plastik
den herrlichsten Stoff gab. Vom jugendlichen Eros (Amor), durch die
Jünglingsgestaltexi des Bacchus, Hermes (Merkur), Apollon, Ares (Mars),
hinauf zu den Mannesgestalten eines Poseidon (Neptun) und des All-
vaters Zeus. Artemis (Diana), Pallas Athene (Minerva), Aphrodite
(Venus), Here (Juno), welch verschiedene Typen! Das Göttliche ver-
langte stets das Allgemeine und dieses in der höchsten Schönheit; so-
mit schuf der Grieche für jedes Göttliche ein Ideal im eigentlichsten
Sinne. Doch genügt hier die Andeutung, um die ganze Wichtigkeit
einer solchen Götterbildung für die Plastik zu zeigen. Auf die wunder-
vollen Idealbildungen selbst können wir hier leider nicht näher ein-
gehen. Nur erinnert soll werden an den Zeus und die Athene des Phi-
dias, an die Here des Polyk-let. Bekannt ist die Erhabenheit derselben
aus so vielen Erzählungen. Man glaubt, in der Zeusbüste von Otricoli
(Fig. 39) eine Erinnerung an den Zeus des Phidias zu besitzen, und
wohl kann dieselbe dazu dienen, obwohl ich die enge Stirn, die wir
auf dieser Büste -gewahren, nicht dem Phidias zuschreiben möchte. Ein
Seitenstück dazu besitzen wir in dem Herakopfe der Villa Ludovisi
(Fig. 40).
Individuell, wie unsere Zeit ist, werden wir uns meistens einer
grösseren Individualisirung mit Vorliebe zuwenden und werden Viele
die Allgemeinheit des Ideals, z. B. das der Here, als eine gewisse Kälte
empfinden. Doch ist dabei zu bedenken, dass ein solches Götterbild in
.dem Tempel stand und dass in streng architectonischer Umgebung eine
solche allgemeine Idealität ganz anders wirkt, als wenn dieselbe in das
vollkommen reale Leben mit seiner Individualisirung hineingestellt wird,
Was in der freien Natur nicht realistisch und scharf genug betont er-
scheint, kann, von strenger Architectur umgeben, unruhig, unleidlich
erscheinen. Es schickt sich eben Eins nicht für Alle, und derjenige