Nacktheit.
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dern sie höchstens über ihre Ueberspannung belehren kann. Er hat
sich nicht um die gewöhnlichen Anstandsregeln zu kümmern, sondern
schafft den Menschen, wie er in seiner natürlichen Schönheit dasteht.
Der Plastiker also, der sein Object so in sich abgeschlossen wie
möglich darstellt, bildet den Menschen dann nackt, sei es Weib oder
Mann. Wohl hat er nun einen Unterschied zu machen, sobald er seinen
Vorwurf nicht ganz herausgerissen aus Allem, sondern mit Bezug auf
Zeit, Sitte, Gewohnheit hinstellt, oder sobald er neben der völligen
Körperschönlieit noch ein Anderes bezweckt oder erkennen lassen will.
Gesetzt, er will keinen schönen Menschen, sondern einen Gott dar-
stellen. Ein Zeus, aus dessen Haupt Pallas gebo1'en wird, Jchovah,
der die Welt aus Nichts erschafft, sind nicht zeugende NVcsen, wie der
Mensch. Bei einer Pallas, die keine Liebhaber hat, wie die Venus,
muss Alles, was auf das Geschlechtliche deutet, mehr zurücktreten, als
bei der Venus oder einer Sterblichen. Hier wird sich der Künstler
dazu hingedrangt fühlen, durch Gewandung Alles zu unterdrücken, was
das Geschlechtliche besonders kenntlich macht. So wirft der Hellene
auch um seinen Zeus ein Gewand, das den Unterkörper verbirgt, so
bekleidet er seine Pallas, so hat er im Anfang überhaupt die Götter-
gestalten bekleidet dargestellt, bis er denn mit der Zeit immer mehr
und mehr darin das Menschliche vertreten lässt und zuerst bei den-
Äenigen männlichen Göttern, die e1' am menschlichsten durch seine
Dichter aufzufassen gelernt hat, dann auch bei weiblichen, wo dasselbe
gilt, das Gewand mehr und mehr, schliesslich ganz fallen lässt. So
wagt er es, auch die Göttin der Liebe nackt zu bilden. Die so dar-
gestellte knidische Kypris wird noch von der Zeit, die sie entstehen
Sah, mit halber Scheu betrachtet; dann aber erscheint die Venus immer
mehr nur als das holdselige Weib und als solches ohne Bekleidung.
Auch der kühne Michelangelo, der sich sonst um keine Hülle kümmerte
und der Natur auf den Grund sah, hat bei der Darstellung Gottes das
Vorwallende oder deckende Gewand gebraucht. Was die Nacktheit
des Menschen betrifft, so versteht sich von selbst, dass der Künstler
die Formen, die durch das Alter ihre Schönheit und Frische verloren
haben, verhüllt zu bilden hat, wenn er nicht besondere Ziele ins Auge
fasst. Sind die vollen Weiblichen Formen schön, so sind es selten die-
jelligen einer älteren Matrone. Doch hängt dieses eng mit der Ideal-
bildung zusammen, die durch Nacktheit gefordert ist, Weil bei ihr der
Mensch rein für sich, als Mensch überhaupt, nicht als ein Product seiner
Zeit hingestellt wird. Was nun die Gewandung anbelangt, so wird
dieselbe entweder vom Künstler gebildet aus den soeben besprochenen
Gründen, oder um die Person in ihrer Stellung, in ihrer Zeit zu schil-
dem, wozu bekanntlich das getreue Gostüm sehr passend zu gebrau-
eilen; oder es können auch technische Gründe in Betracht kommen
oder ein und der andere Grund können zusammen wirken. Man sehe
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