Volltext: Populäre Aesthetik

Bekleidung. 
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Diesen Blick kann man üben, muss man üben. Er findet sich bei 
uns selten, weil uns die Anschauung fehlt, die nothwendig ist, um ihn 
zu wecken und auszubilden. An Schnürleibern und Reifroben, an aus- 
gestopften Röcken und Hosenhülsen lässt sich keine Schönheit stu- 
diren. Man muss nackte Körper sehen, um ihreSchönheit zu erken- 
nen; alles Andere kann nur ein Stückwerk geben. Daher findet sich 
nun aber auch wenig Verstandniss für die Plastik, ein weit allge- 
meineres z. B. für die Malerei. Wer seinen Blick bilden will, der soll 
vor einem schönen plastischenlWerke lange und oft verweilen; wenn 
er auch im Anfange nur sieht, dass ja Alles „sehr schön" ist, aber im 
Grunde keine eigentliche Bewunderung empfinden oder nicht einmal, 
was denn des Auffallens daran so wcrth sei, entdecken kann, so soll er 
es sich nicht verdriessen lassen, sondern soll seine Blicke darauf con- 
centriren, nicht links, nicht rechts schauenyallmälig wird er bemerken, 
dass die todten liiarmorzüge Leben gewinnen, dass die Linien nicht 
mehr starr sind, sondern in einander hinüberrinnen, dass unter der 
Form gleichsam ein Leben zu pulsiren beginnt. Dann denkt die Stirn, 
dann sieht das Auge, dann athmet der Mund, regen sich die Glieder; 
erst in diesem Augenblicke sieht man plastisch. Wir haben es bei un- 
serer Kleidertracht, die Alles verdeckt bis auf Gesicht und Hände, dann 
bei unseren Ansichten über Schamhaftigkeit sehr schlimm. Die nackte 
Schönheit des andern Geschlechts zu sehen, das gilt für die scham- 
loseste Sinnlichkeit, wobei nicht zu laugnen ist, dass durch das Ver- 
bergen die Sinnlichkeit in der überwiegendsten Weise eher geweckt 
avird als das Schönheitsgefühl. Auch das eigene Gesehlecht- kann man 
höchstens in allgemeinen Badeanstalten sehen. Weil zier die Körper- 
formen verhüllt werden und daher Niemand so genau ihre Schönheit 
oder Unsbhdornlizitfeifkennen kann, so wird auch wieder weniger darauf 
geachteFsFdu-rch Gynniasuii" oder durch eine angemessene Lebens- 
weise schöner zu machen, und so trägt Eins zum Andern wieder dazu 
bei, dassdieTfö-rperscdhbinheit nicht so ausgebildet wird, wie dies mög- 
lich wäre und wie sie zu Zeiten miti anderer Kleidung und anderen Be-' 
griffen von Sittsamkeit ausgebildet wurde. Unsere bildenden Künstler 
haben es also doppelt schwer, die Schwierigkeiten zu überwinden. Sie 
müssen sich entweder begnügen, bekleidete Menschen zu bilden, wozu 
nöthigen Falls die Anatomie hinreicht, oder sie müssen sich mit we- 
nigen Modellen begnügen, die namentlich, was das weibliche Geschlecht 
betrifft, mehr den gebrochenen Schönheiten als den blühenden anzu- 
gehören pflegen. Welche Gestalten sah der hellemsche Bildner! Die 
nackten, auf's Tretflichste ausgebildeten Gymnasten, die schönen Ge- 
Wandfiguren, auch bei Frauen der häufige Anblick von Armen und 
Beinen, dann deren allgemeine, Von den Gewändern, von Wülsten, 
Drähten u. dergl. nicht verunstaltete Umrisse. Da hatte das Auge 
Stoff; da war doch Körperlichkeit, während wir heute nur auf das Ge- 
Lemckc, Aesthctik. -2. Anti. 23
	        
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