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Bildnerei.
Die
wichtigsten Theile, Kopf, Hals, Brust verkürzt und verkümmert zu
zeigen, muss er von dem Standpunkte aus, von welchem das Werk,
in Bezug auf das Ganze wie auf das Einzelne, den schönsten Anblick
gewährt, die Verhältnisse des Werkes bestimmen und die Formen
darauf hin zu behandeln wissen.
Dies kann ihn veranlassen, dem Oberkörper, je höher, desto
längere Maasse zu geben als gemäss wäre, wenn der Blick durch das
von unten nach oben Schauen nicht die richtigen Verhältnisse kürzte.
Ferner wird er_ darum besonders auf die Stellung zu achten haben; je
höher die Statue, desto mehr muss z. B. das Angesicht vornüber-
geneigt sein, um einen vollen Anblick zu gewähren; andernfalls würde
der Betrachter sich mit dem Kinn, der unteren Nase und dem Augen-
knochenrande zu begnügen haben. Phidias war bekanntlich ein Meister
in der Kunst solcher so nöthigen Berechnung. Ich möchte hierbei
darauf aufmerksam machen, 0b nicht die bis zu 1000 überhängende
Stirn mancher griechischen Idealbildung aus ähnlichen perspectivischen
Gründen gebildet ist, nicht aber aus dem Bestreben allein, das Geistige
der Stirn dadurch besonders zu betonen. Die Griechen erstrebten vor
allen Dingen Schönheit; eine solche überhängende Stirn ist nicht
schön; sie drückt auch nicht einmal die höchste geistige Kraft aus.
Die Stirn des schaffenden Geistes ist nicht senkrecht, viel weniger
überhängend, sondern zurückfliegend; die Stirn des Ueberliefertes ver-
arbeitenden Geistes ist freilich senkrechter, wodurch wir in einen Streit
gerathen würden, 0b nun Dieses oder Jenes höher zu stellen sei.
Wollten wir aber auch aus beiden eine Mittellinie bilden, so würden
wir doch niemals zu dem angegebenen übermässigen Gesichtswinkel
kommen, sondern nur zu einer Linie, wie wir sie in den meisten
griechischen Bildungen gewähren, weswegen jene Ausnahmen beson-
ders in's Auge zu fassen sind.
Die..Darstellung einer einzelnen schönen Gestalt kann alle Schön-
heit der Plastik zeigen; ja sie lässt sich als deren eigentliche Aufgabe
bezeichnen. Von ihr gilt natürlich alles über die Schönheit des Men-
sehen oder des Vorbildes überhaupt Gesagte, so wie das nach den
allgemeinen Gesetzen des Schönen Geforderte. Idee und Erscheinung
müssen in jeder Beziehung den ästhetischen Anforderungen entsprechen.
Aber die Bildnerei bleibt bei der Einzelgestalt nicht stehen. Sie stellt
zwei und mehrere Gestalten zusammen. Wir können hier nicht die
Gruppenbildung ins Einzelne gehend untersuchen. In bedingter Weise
gehört die Reiterstatue hierher, obwohl Mann und Ross darin mit
einander verschmolzen und in gewisser Hinsicht nur als eine Figur zu
rechnen ist. Sie gehört wegen der Bildung des Rosses hauptsächlich
der Erzbildnerei an, die, von schon genannten Gründen abgesehen,
das Thier ohne Stütze darstellen kann, was in anderem Material wegen
der schlanken Beine schwer oder gar nicht möglich ist. Ohne mich