Einheit
der
Mannigfaltigkeit.
Harmonie.
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Es ward schon auf die Vermeidung übermässiger Einheit hin-
gewiesen. Die Vielheit, Mannigfaltigkeit zeigt sich im Wechsel der
Linien, Flächen, Glieder, Theile (Mauer, Dach, Stockwerke, Wand,
Fenster, Thür, Gesims, Säule u. s. Die strenge arehitectonisehe
Ordnung liebt möglichste Gleichheit derselben Theile: gleiche Säulen,
gleiche Fenster im gleichen Stockwerk u. s. w. bis zur Gleichheit des-
selben Verzierungsschmuckes (Perlenschnüre, Eierstabe, Zahnschnitte,
Mäander u. s. Doch erlaubt sich hier dieser und jener Stil grössere
Freiheiten.
Die Harmonie zwischen Idee und Erscheinung muss das Ganze
wie das Einzelne durchwalten. (Siehe den allgemeinen Theil.) Sie zeigt
sich beim Bauwerk darin, dass es seiner Idee, also meistens dem Zweck
entspricht. Wo der Zweck nicht erfüllt ist, stört der innere Wider-
spruch, wenn er zum Bewusstsein kommt; so schön auch Einzelnes er-
scheinen mag, das Ganze erscheint verfehlt, unter Umständen unsinnig
und komisch. Eine Scheuer ist nicht zu bauen wie eine gothische
Cathedrale, ein Festungsthurm nicht wie ein Sommerpavillon. Die
schönste falsche Facade mit einer Baracke dahinter, mag uns als
Facade gefallen; das Ganze wird uns nur einen falschen maskenhaften
Eindruck machen, der, nrie überall, "unerfreulich ist, wenn er nicht
komisch behandelt wird. Auf die weitere Harmonie zwischen Bauwerk
und Gegend sei hier kurz verwiesen. Wo letztere zur Geltung kommt,
muss der Architect landschaftlichen Schönheitssinn besitzen, damit er
nicht gegen den Character der Gegend verstösst und etwa in eine
Felsenlandschaft bauliche Formen stellt, die für eine Gartenebene ganz
ansprechend gewesen wären, zum ernsten, grossartigen Gebirgscharac-
ter aber durchaus nicht stimmen.
Einen der wichtigsten Theile der Baukunst bildet die Lehre von
der Harmonie der Idee und der Erscheinung in Bezug auf die bedeut-
samen Glieder oder vielmehr auf alle Theile, weil Alles bedeutsam sein
soll. Jeder Theil erfüllt eine Function; diese soll sich aussprechen;
erst dadurch bekommt er ästhetischen Werth, wird er ästhetisch-ver-
nünftig erscheinen. Die Form, welche dem Zweck am besten entspricht,
giebt die Grundlage, ist für die Baukunst das Natürliche. Von ihrer
Grundform wird die Baukunst ausgehen müssen. Wir brauchen nur
wenige Beispiele zu geben. Eine Säule soll stützen. Säulen an einem
Gebäude errichten, die nichts zu stützen haben, widerspricht der Idee.
Bogen öffnen oder entlasten. Eine willkürlich zwecklose Anwendung
von Bogen ist unschön. Wird eine Füllung behandelt als 0b sie die
Hauptlast zu tragen hätte, so ist dies verkehrt, und wie nun alle solche
Widersprüche zwischen Idee und Erscheinung sich zeigen mögen. Hie-
her gehört die ästhetisch so schwierige und wichtige Characteristik.
Eine Function soll ausgedrückt werden; wie die Kunst nicht roh natu-
ralistisch zu Werke geht, sondern sich mit einer Andeutung, einem