Harmonie und Kampf
dieser Ideen.
Neuzeit.
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mussten und die jede Kraft missbrauchte, erhob sich nun vor Allem der
deutsche Sinn.
Die Reformation regenerirte die christliche Welt. Aber während
in ihr Alles den geistigen Gütern und Zielen des Glaubens geweiht
schien, war es doch auch ein anderer Geist, der in ihr zum Ausdruck
kam: Kritik, Wahrheitsdraug, philosophischer Geist, nenne man ihn,
wie man Will. Der zum Zweifeln gebrachte Glaube hatte sich mit ihm
verbunden, ohne seine Bedeutung zu kennen. Für die Religion ging
der Kampf, aber der vom Schlummer" erweckte Mitkänipfer, der Ge-
danke, der anfangs hinter dem Glauben herschritt, der trat bald
voran er war der mächtigere Geist, der die neue Zeit regiert hat.
Die Vorkämpfer der Religion geirahrten bald mit Schrecken, welchen
gefährlichen Bundesgenossen sie hatten; gerne hätten auch die Refor-
inatoren ihn nach geleistetem Dienst wieder in die alte Abhängigkeit
zurückgedrückt, haben auch wohl Feuer und Schwert walten lassen,
um ihn stumm zu machen; aber es war zu spät. Der philosophische
Geist hatte den Kampfplatz betreten und liess sich das Schwert nicht
mehr aus der Hand winden. Das philosophische Princip, der Trieb
nach der Erkenntniss ward der Grundzug der neueren Zeit; Forschen
nach der YVahrheitl Das religiöse und ästhetische Element sind davor
zurückgedrängt. Im Anfang wandte sich die Forschung, sei es als
eigentliche Philosophie oder als Moralphilosophie, Scepsis, Kritik,
mehr dein engeren Geistesleben zu. Gegen Ende des vorigen und
in den ersten Decennicn des jetzigen Jahrhunderts trat aber der
Umschwung ein, dass diese Art der philosophischen Speculation,
die bisher den Vortritt gehabt hatte, znrücktrat und die wissenschaft-
liche Forschung sich mehr und mehr der Untersuchung des Stolfs, der
sogenannten Materie und ihren Kräften zuwandte. Grossartig waren
die Erfolge. Dem Erkennen der Kräfte der Natur folgte die praktische
Dienstbarinachung derselben für den Menschen auf dem Fuss. Die ge-
waltigsten Veränderungen und Erweiterungen des Arbeit- und Verkehr-
lebens der Völker resultirten daraus. Während die Freiheit des
Gedankens in allen darauf- bezüglichen Gebieten des politischen und
socialen Lebens in gleicher Weise aufräuinte, wie auf kirchlichem und
allgemein geistigem Gebiete, und das Unwalire und Unnatürliche stürzte
und noch stürzt, herrscht jetzt auch eine Umwälzung im materiellen
Leben, die seit der Entdeckung der grossen Seewege mit dem Beginn
der neuen Zeit freilich schon ihren Anfang genommen hat, nun aber
mit den neuen Errungenschaften der Jctztzeit in Wissenschaft und
Technik erst die rechte Triebkraft gewinnt. Grösserer Volkswohlstand
ist gewonnen und wird gewonnen. Wir_ stehen hinsichtlich ethischer
Principien nicht zurück; nach den ästhetischen, ihrer jetzigen Bildung
und Weise entsprechenden Formen beginnt eifriger und eifriger die Zeit
zu ringen; nach der Seite des Forschens in Erkenntniss nach Wahrheit
Lemcke, Aesthetik. 2. Auü. 2