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Der
Künstler.
Dem Talente fehlt das Ursprüngliche, dieser höchste. zündende
Funken, dieser Blick und (triff, um die Hauptsache, den Kernpunkt,
das Princil) zu erfassen und auszuführen. Es hat eine grosse Anlage.
schnell aufzufassen, abzusehen, zu lernen, was ihm gezeigt wird: es
verbessert, wenn es auch meistens die Operationen nicht wesentlich
vereinfacht, sondern seine Forcc darin besteht, sie mit sehr grosser
Geschwindigkeit zu verrichten. Wo es erfindet, ist es mühsamer, mehr
durch Arbeit, durch Nachdenken und Vergleichen als tiurch schnellen
Blick findend. Natürlicher Weise gicbt es übrigens keine scharf gezo-
gene Gränze zwischen Talent und Genie. Das Eine geht oft in das
Andere über. Gewöhnlich versteht man unter 'l'alcnt die Befähigung
für eine Einzelheit, während das Genie als das eine Gesammtheif; einer
Thatigkeit Umfassende erklärt wird. Dies kann richtig sein, trifft aber
nicht immer zu. Jemand kann in allen Stücken ein Talent sein und
ist darum doch kein Genie, und ein Anderer bleibt ein Genie, wenn
er auch nur nach einer Seite hin die angegebene, angeborene Bega-
bung hat.
Genialität nennt man die Anlage, welche Spuren des Genies auf'-
weist, Lichtblitze, stark genug, um auf Augenblicke das Dunkel zu
erhellen, aber ohne Dauer. Sie vereint das Gewöhnliche mit dem Aus-
gezciehnetcn. Jetzt gelingt ein guter Griff, das nächste Mal bleibt
Atllcs auf dem Niveau der Alltäglichkeit.
Wie nnbevrusst auch das Genie das Ilerrlichste schaffen kann, wie.
gesetzlos es häufig erscheinen mag, weil es nach den höchsten, aber
darum bisher dunklen und verborgenen Gesetzen schafft, so ist die
Unklarheit über sich und die Gesetze durchaus nicht nothwcndig. [in
Gegentheil, reifend wird sich das Genie des anfangs unbewusst Ans-
geübten bewusst werden. Thöricht aber ist, wenn Missverstand meint.
dass Gesetzlosigkeit das Wesen des Genies ansmache, und dass ein
solches des Studiums, der Mühe und Arbeit und aller Regeln über-
hoben sei, ja dergleichen verschmühen müsse, weil nur das von echter
Begabung zeuge, was gleichsam aus dem Nichts erschaffen werde.
Glücklicher Weise brauche ich mich hiebei nicht lange aufzuhalten.
Die genialisehe Zeit ist vorüber, welche so räsonnirte und danach han-
delnd sich verdarb, und der alte Spruch wird wieder mehr beherzigt,
dass die Götter den Schweiss vor die Tugend gestellt haben.
Wie gross die Begabung sei, Anstrengung kann Niemandem er-
spart werden, der Grosses leisten will. Seht nach, wie Mozart, wie
Rafael gelernt hat. Lest, wie Michel Angele drei Mal zehn Mal so
lange kann man sagen, Anatomie studirt hat, als für unsere Aerztc hin-
reichend erachtet wird, denen man sein Wohl und Wehein der Gefahr
anvertraut. Wer nicht sieht, wie Shakespeare gearbeitet hat, der ist
blind. Und Schiller und Goethe, wer ist fleissiger als sie gewesen?
Oder ist Napoleon im Traum zum Kaiser geworden, haben Alexander