Volltext: Populäre Aesthetik

Die Phantasie, Phantastik. 
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aneinandersetzen; sie kann Gilcich und Gleich zusammenfügen und aus- 
einanderreissen, das Fernsle mit dem Nächsten verbinden und so fort. 
Der mit (llCSCl' Kraft Begabte sieht z. B. einen Menschen und ein Pferd. 
Cihne Wleiteres vermag er den Menschen und das Pferd zu theilen und 
beliebig die Stücke zusammenzusctzen. So bildet er etwa einen Ken- 
tanren. In dieser Art setzt er Vogelhälse und Flügel an Stiere, lässt 
Menschen in Fische oder Fische in Menschen enden, oder wie es nun 
seiner Einbildungskrzift beliebt. Er braucht dazu weiter nichts, als 
Reiehthum an Stoff, um unzählige und die irunderlichsteii Oombina- 
tionen auszuführen. Sodann vermag diese Einbildungskratt beliebig zu 
vergrössern, zu verlaleinern. Sie kann gleichsam durch die- verschieden- 
sten Glaser schauen. Weil der Mensch das Maass setzt, so kann er, 
sich oder das gewöhnliche Maass hinwegdenkend, den lilaulirurfshügel 
zum Berg anschwellen, das Gebirge zu einer lilaulivurfshügelkette herab- 
lsinken lassen. Kurz, die grösste Freiheit, die grösste Willkür steht 
(liescr mit Vorliebe Phantasie genannten Einbildungskraft zu Gebote. 
So wie wir von Willkür sprechen, haben wir es auch mit der Aus- 
schweifung zu thun. Ohne noch das Maass inis Auge zu fassen, welches 
die Willkür hindert, wollen wir gleich bemerken, dass diese ungebän- 
digt wuchernde Einbildungslzraft die Gränzen überspringt und als 
I-thantastilä, wie sie alsdann heisst, nur zu leicht bizarr, unvernünf- 
tig, sinnlos wird. Je immenser ihre Kraft, desto ungeheuerlichcr ihre 
rausgeburten. In ihrer Maasslosigkeit triift sie mit dem Wahnsinnigen 
zusammen, oder ist vielmehr auf der höchsten Stufe wahnsinnig. 
Sie ist eine wichtige Kraft, aber vor ihrer Ueberschätzung, wie 
wir sie nicht selten finden, ist doch zu warnen. Mancher erblickt die 
Begabung für die Kunst besonders in der Phantastik. Und Mancher 
hat sich schon abgequält, sie zu zeigen und seinen gesunden Sinn 
geistig und körperlich rninirt, indem er den Geist, dann auch den Kör- 
per überreizte und die Phantastik der Fieberhaftigkeit erzwang. Zur 
richtigen Würdigung will ich auf die Griechen verweisen. Welche un- 
übertreatfliehe Starke der Einbildnngskraft! Ihre Gebilde leben. Ihre 
Statuen wollen von den Postamenten steigen. Im Homer, in den Dra- 
men  können die Gestaltungen fester umrissen, plastischer gedacht 
werden? Und nun vergleiche man sie mit den Kelten, Assyrern, Indern. 
Der Grieche hat nicht ein Hundertstel der Phantastik des Inders, und 
hundert Mal übertrifft er ihn als Künstler. Man sieht daraus, dass es 
noch auf etwas Anderes ankommt. 
Wir haben bisher im Allgemeinen von der Einbildungskraft gem 
sprechen, wie sie wahllos Eindrücke aufnimmt. Wie die ilorbilder, so 
die Eindrücke. Waren jene hässlich, so auch diese. Der Künstler 
wäre damit allein noch immer schlecht bestellt. 
Was muss hinzukommen? Erinnern wir uns, dass der Künstler 
nach dem Schönen, nach der Ilarmonie zu streben hat, dass er von den
	        
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