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Der Künstler.
IIand hat nachbilden können, der kann natürlicher Weise kein Abbild
liefern. Bei einem Vorbilde kann nun durch unzählige Male wieder-
holtes Ilinblickcn und Plinprätgen schliesslich wohl auch der stumpfe,
Nachbildcr dahin gelangen, den (legenstand zu erfassen und wieder-
zugeben. Wenn ihm aber das Vorbild weggenommen wird, so ist klar,
dass er alsdann anfällig sein wird, ein (leutliches Bild zu gewinnen.
Er hat nur eine undeutliche Vorstellung, die ihn jeden Augenblick im
Stich lässt, wenn er sie wiedergeben und anschaulich machen soll.
Ilandelte es sich vorher um ein einfaches Einbilden des Gegebenen, so
jetzt- um ein besonderes Vorstellen und Einbilden, um eine ausserordent-
liche Steigerung, die wir mehr als jenes Illinbildungskraft zu nennen
pflegen. Es kann Jemand das erste Vermögen in hohem Grade haben,
also z. B. ein ausgezeichneter Naehbildner sein, die Vorstellungskraft
aber, ein nicht sinnlich Wahrnehmbares sich vor den Geist zu rufen.
kann ihm ganz fehlen. Er ist dann natürlich ein in llinsicht auf
Schaffen sehr enggebundener Mensch, der durchaus von den Vorbil-
dern, welcher Art sie nun auch sein mögen, abhängt. Innerhalb seiner
(lränzen kann er freilich sehr Bedeutendes leisten. V ermag der Mensch
sinnliche Eindrücke mit solcher Kraft in sich hineinzubilden, dass er
diese Abbilder wieder beliebig vor den geistigen Blick ziehen kann, um
sie so lebendig' anzuschauen oder zu überhören, so ist er natürlich
weniger an den Augenblick gefesselt und an dessen Leben gebunden.
Kann er sie daraus ablösen und sie gegenständlich machen, so ist er
frei gegenüber jenem erst erwähnten Gebundener]. Es braucht kaum
bemerkt zu werden, dass diese Einbilrlungskraft, ganz allgemein gefasst
und ohne Rücksicht auf die Fähigkeit, sie auszudrücken, ein Haupt-
vermögeu des Menschen ist, das ihn zu dem macht, was er ist. Ohne
jede Einbildungskraft ist er ein dumpfes, stumpfes Geschöpf des Augen-
blicks, ein Thier und zwar ein niederes Thier. Durch sie erst kennt
er eine Vergangenheit und denkt er eine Zukunft; durch sie allein kann
er die Ursache und Wirkung; verbinden, indem er das Vorhergehende
festzuhalten vermag. Wo sie stumpf ist, fehlt das Material für das
Denken; wo sie fehlt, ist Nacht, und nur der thicrische 'l'rieb setzt
noch den Körper in Bewegung. Auf die verschiedenen Arten der Ein-
bildungskraft einzugehen, ist hier natürlich ilieht der Ort. Sie kann
schwach, stark, dauernd, vergänglich u. s. w. sein; nur auf die wichtige
Art als Gedächtniss ist hier aufmerksam zu machen, wo der Gegen-
stand möglichst genau eingeprägt wird, um ihn beliebig wieder hervor-
zusuchen und zu gebrauchen.
Wir haben bisher von dem Aufnehmen sinnlich wahrgenommener
Dinge in die Einbildungskraft gesprochen. Wir müssen jetzt einer be-
sonderen Kraft derselben gedenken. Es vermag dieselbe nämlich nicht
selten mit den in die Seele gedrückten Abbildern das seltsamste Spiel
Zll treiben. Sie kann dieselben zerlegen und in beliebigster Ordnung