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Die
Völker
der
Neuzeit.
selten von einem schwächeren Pressgang fangen liesseil wie Schafe und
sich gleich darauf wie Löwen in den Seeschlachten schlugen. Gross-
artig ist die Leistung gewesen, die die englische Nation kürzlich in der
Aufstellung von Freiwilligen gemacht hat. 150,000 Mann, von denen
überall verwendbar im Lande 80,000 Mann marsch- und gefechtfahig,
standen in kurzer Frist auf den Exercierplätzen. Auch Schützenfeste
sind seitdem mit Eifer und Erfolg betrieben werden.
Den Liehtseiten fehlen natürlich nicht die Schattenseiten. Der
Engländer zeigt sich häufig plump, ungeschlacht, verbissen, bornirt.
Sein gesunder Realismus wird zum Kräimersinn oder sinkt sonst in Ge-
meinheit. Sein Muth wird Brutalität, sein Ernst liIurrsinn, seine Kalt-
blütigkeit liicherliches Phlcgma, seine Vorliebe für das Characteristisclxe
führt zur barocken und spleonigen Absonderliehkeit. So wahrhaft nobel
er in seinen edelsten Exemplaren ist, so scheusslich roh in seinen
niedersten. Den Mnsterbildorn englischer Gentlemen und Frauen stehen
die gemeinsten thierischen Geschöpfe gegenüber, unter welchen die
trnnkeneii Weiber mit den iilännern an Bestialität wetteifern. In Paris
giebt es keinen Pöbel wie in London. Dort ist auch in den niedersten
Schichten der Bevölkerung noch immer ein ansprechender Zug; eine
gewisse Noblesse zuckt hier und dort durch. In Londons Pöbel ist
nichts dergleichen zu entdecken.
Das Genie unserer Zeit, sagte Louis Napoleon, ist der gesunde
Menschenverstand. Dies Genie besitzt der Engländer.
Die englische Nation ist durch ihre Colonien die wichtigste der
Jetztzeit geworden. Ihrer Fähigkeit für die Colonisation habe ich
schon früher Erwähnung gethan. Die Engländer helfen sich selbst und
wissen Gesetzen zu gehorchen; dadurch lernen sie auch regieren. Der
Franzose hingegen nimmt immer sich selbst vom Gesetze aus. Der
Deutsche hat noch nicht wieder gelernt sich selbst zu helfen. So hat
jener seine Colonien nicht zu beherrschen, dieser jetzt keine zu be-
gründen vermocht.
Ich übergehe den geselligen, ungestümen, leidenschaftlichen Irlan-
der, so künstlerisch angelegt er ist. Genug, dass sein echt keltisches
Blut ihn" noch seltener zu einer wahrhaft harmonischen Vollendung
durchdringen lässt, als den Franzosen, den er anTiefe und Kraft der
Empfindung übertrifft, dem er an Geschmack und Stetigkeit aber weit
nachsteht.
Auch über den englischen Nordamericaner will ich mich kurz
fassen, so wichtig er erscheint. Er macht den Gegenfüssler des Russen,
wobei sich freilich zeigt, dass die Extreme sich in manchen Punkten
berühren. Der Russe ist Massenmenseh; der Nordamericaner durchaus
selbständiges Individuum. Dort keine Kunst vor Sclavenarbeit und
Sclavengedrücktheit, hier keine vor Gelderratfen und ewiger Beweglich-
keit des Einzelnen. Dort Knechtessinil, hier Unverschämtheit; dort