Die Stände.
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"Rigr ging dann zu einem grösseren Hause, dessen Thür nach
Osten war, mit einem Ringe versehen; er ging hinein, das Estrich war
bedeckt, die Gatten sassen da, sich anschauend, und spielten mit den
Fingern; sie hiessen Fadir und Modir (Vater und lilutter). Der Haus-
herr flocht eine Senne, bespannte den Bogen und machte Stiele für die
Pfeile zurecht, die Hausfrau beschaute ihre Arme, strich das Linnen
glatt und machte die Aermel fester und setzte ihre Haube zurecht. Auf
der Brust war eine Spange, das lange Kleid hing ganz herunter, das
Hemd war blau. Die Braue war leuchtender, die Brust glänzender, der
Hals weisser als der reinste Schnee. Rigr setzte sich auf die Mitte der
Bank, die Gatten zu beiden Seiten. Modir nahm ein buntes Tuch von
weissem Flachs und deckte den Tisch, dann bedeckte sie das Tuch mit
dünnen Laiben von Waizen und setzte volle silbergeschmückte Schenk-
tische hin. In der Schüssel war Wildpret, Speck, gebratene Vögel, im
Kruge Wein, die Becher waren überzogen mit Metall und sie tranken
und plauderten bis zum Abend. Rigr weilte drei Nächte, dann ging er
fort und nach neun Monden gebar Modir einen Knaben, den sie in Seide
wickelte und er bekam in der Taufe den Kamen Jarl (Graf). Sein Haar
war blond, seine Wangen blühend, die Augen lebhaft wie bei einem
Schlängelchen. Jarl wuchs heran, lernte den Speer schwingen, Pfeile
schiessen, reiten, jagen, Schwert zucken, schwimmen. Rigr kam aus
dem Hain dorthin, lehrte ihn Runen, gab ihm seine Namen und erklärte
ihn für seinen Sohn, der die alten Güter und alten Wohnungen haben
sollte. Dann ritt Jarl auf dunklen Wegen durch neblige Berge zu einem
Hofe, lernte Schlachten schlagen und Länder erobern. Er besass allein
achtzehn Güter und theilte Allen Kostbarkeiten aus, und die Herrlichen
fuhren auf feuchten Wegen und kamen zu einem Hofe, wo Hersir (der
Freiherr) utohnte und es kam dem Jarl die zarte, gegürtete, weisse,
muthige Jungfrau entgegen, welche Erna (Rüstig) hiess. Jarl vermählte
sich ihr und sie gebar ihm: Kind Geboren Nachkömmling
Edel Erbe Verwandter Abkömmling Sohn Junge
Blutsverwandt und Mann war der jüngste. "
Trefflich, wenn auch mit dem echten aristokratischen Hochmuthe
der Nordmänner, sind hier die Stände gezeichnet.
Noch eine kurze Bemerkung über die Einwirkung des Elerrschens.
Der Herrschende ist der Kräftigere und Reichere. Er hat Zeit und
Mittel Körper und Geist zu bilden, verrichtet keine niederen, schmutzigen,
verunstaltenden Arbeiten. Herrschaft giebt Selbstgefühl, Stolz und hebt
den Menschen. Zum Herrschen gehört geistige und körperliche Kraft,
dann auch Ordnung, Zucht. So lange der Herrschende in Wahrheit ein
tüchtiger Herrscher ist, sich weder zur Brutalität und Rohhcit hin-
reissen lässt, noch in Weichlichkeit, Ueppigkeit, Faulheit verfällt, so
lange er durch geistige und körperliche Uebermacht voransteht und mit
dem eigenen Beispiele der Ordnung, der Gesetzlichkeit die Untergebenen
Lemcke, Acsthetik. 2. Aud. 13