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Historische Einleitung.
in allen Gegenden Deutschlands nachzuweisenl). Bei den Meisten
war das philologische Element vorherrschend, die Ergründung der
Grammatik und der Spracbregeln des Lateinischen und Griechischen;
Reuchlin hatte sogar das Verdienst, die erste hebräische Grammatik
zu schreiben. Nur Celtes tritt unter dieser ersten Generation deut-
scher Humanisten mehr im Sinne der Italiener, als abenteuernder
Poet und Polyhistor, auf. Der Kirche gegenüber verhalten sie sich
aber anders, wie die Italiener; statt indifferenter Haltung bringen
sie ihr eine eifrigere Opposition entgegen. Die Meisten sind ernsten,
religiösen Sinnes, mehrere wenden sich theologischen Studien zu und
weisen die Schwache und Unwahrheit der bisherigen, an den Uni-
versitäten herrschenden Doctrin nach. Nur wenige von ihnen sind
Geistliche, die Mehrzahl stehen als Lehrer oder Richter in weltlichen
Aemtern; sie wahren ihre Freiheit ängstlich. Agricola spricht es
schon aus, dass allein die Heilige Schrift zur Wahrheit führen könne,
Reuchlin suchte durch hebräische Studien und selbst in jüdischen
Geheimlehren religiöse Belehrung. Erasmus lieferte eine kritische
Ausgabe der Evangelien und übte als scharfsinniger, systematischer
Bearbeiter der Theologie einen tiefen und nachhaltigen Einiluss aus.
Celtes hatte auch hier eine den Italienern verwandte, mehr ratio-
nalistische Richtung. Sie alle aber stimmten darin überein, die Un-
sittlichkeit, Rohheit, Dummheit der Mönche und Geistlichen, die
Lächerlichkeit ihrer Doctrinen zu verspotten und zu geisseln, wobei
Erasmus, obgleich er sich später, als es zum offenen Kampfe kam,
aus Friedensliebe oder persönlicher Bequemlichkeit zurückzog, alle
anderen an feiner und vernichtender Satire übertraf. Noch stärker
war dies bei der zweiten, sehr viel zahlreicheren Generation deut-
scher Humanisten, die im Anfange des sechszehnten Jahrhunderts
nun schon wie ein Netz ganz Deutschland überzogen und im persön-
lichen Verkehre oder bei ihrer lebendigen prosaischen oder poeti-
schen Correspondenz ihren Zorn und Spott gegen die Barbarei, mit
welchem Worte sie das ganze kirchlich scholastische System be-
zeichneten, immer mehr steigerten und entzündeten. Der Reuchlin-
sehe Streit (1510 bis 1516) brachte es zum offenen Kampfe; Reuch-
lin's mildes und sehr gemässigtes, auf kaiserliche Aufforderung er-
stattetes Gutachten, durch welches er der beabsichtigten Verfolgung
der Juden oder ihrer Literatur entgegentrat, zog ihm von Seiten der
Inquisitoren und der mönchischen Theologen der Universität Cöln
literarische
1) Vgl. hierüber besonders Carl Hagen, Deutschlands
Verhältnisse im Reformatiouszeitalter. Erlangen 1841 H.
religiöse