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Einleitung.
Historische
gemeine Bewunderung erregte. Alle diese an ihn gerichteten, durch-
weg lateinischen Dichtungen wurden dann im Jahre 1524 unter dem
Titel "Coryciana" gedruckt und ergaben eine Theilnahme von nicht
weniger als 120 Dichtern, die damals sämmtlich in Rom lebten.
Aber die Stellung der lateinischen Poesie war doch eine andere,
wie in jener Frühzeit des Humanismus. Sie stand nicht mehr allein,
die italienische war neben ihr emporgekommen. Jede von beiden
hatte ihre Vorzüge. Mit der geistreichen Anmuth und Ilebendigkeit,
welche die Nationalpoesie, besonders durch Ariosto's lange erwartetes
Gedicht (1515), erreichte, konnte die Latinität um so weniger wett-
eifern, als sie, in Folge der zuerst von Lorenzo Valla aufgestellten,
allmiilig aber allgemein anerkannten Ansichten, zu grösserer Correct-
heit gefördert war und darauf den höchsten Werth legte. Die Buch-
druckerpresse hatte sowohl die gelehrten Studien, als den populären
Genuss erleichtert und verbreitet und dadurch den Gegensatz des
Belehrenden und des Unterhaltenden zum Bewusstsein gebracht, der
naturgernäss mit dem der lateinischen und der italienischen Literatur
fast zusammenüel. Jene gab zwar ihre ältere Stellung keinesweges
sofort auf; am Hofe Leo's X. diente sie noch recht eigentlich zur
Unterhaltung; lateinische, vom Spiel der Laute oder Geige begleitete
Improvisationen waren eine Liebhaberei des Papstes selbst und des
höüschen Publikums. Auf Eleganz und Formschönheit machte sie
nun zwar entschiedene Ansprüche, aber sie glaubte nicht mehr, wie
in der Jugendzeit des Humanismus, diese durch geniale Dreistigkeit
erlangen zu können, sondern nur durch enges Anschliessen an die
klassischen Leistungen der römischen Vorzeit. Erst jetzt erreichte
die Verehrung Cicero's den höchsten Gipfel; man fand, dass Petrarca
und seine Nachfolger es damit viel zu leicht genommen hätten; es
wurde ziemlich allgemein anerkannte Regel, sich keines Ausdrucks
zu bedienen, der nicht bei Cicero selbst oder doch in seinem „un-
sterblichen und fast göttlichen Zeitalterf") nachzuweisen sei. Das
Wort und der Styl wurden nachgerade bedeutender, als die Sachen.
Aber auch in diesen zeigte sich der vorherrschende Ernst. Neben
der feinen Satire und den glänzenden Oden im horazischen Style
kam jetzt, und zwar offenbar als höchste und würdigste Gattung,
das Lehrgedicht in Aufnahme. Eine ganze Literatur dieser Art trat
unter Leo X. und seinen nächsten Nachfolgern ans Licht. Fast alle
Gegenstände des damaligen Wissens wurden in lateinischen Hexa-
metern behandelt: Astronomie und die Oultur der Orange (Pontanus),
Burckhardt,
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