Petrarca.
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dass ein vollkommen durchbildeter Mann über Alles zu urtheilen ver-
stehe. Diese Fähigkeit, über Alles zu urtheilen, ist ihm aber nur
die Gewähr für sein richtiges Handeln. Er ruft Gott an, dass er
lieber ein tugendhafter Mann als ein Gelehrter sein wolle. Nur zu
einer Kunst, spricht er ein Mal aus, könne er sich bekennen, dieser
aber wolle er demüthiger Jünger sein, sie wenigstens erwünschen,
wenn er sie nicht besitzen könne. Das sei die Kunst, die ihn besser
mache, deren Ziel er als „Tugend und Wahrheit" bezeichnetl).
Eine nähere Bestimmung dieser „Tugend und Wahrheit" oder
gar eine weitere Ausführung jener Kunst oder Wissenschaft sucht
man bei ihm vergebens. Seine Schriften, Abhandlungen, Briefe, Ge-
dichte behandeln durchweg einzelne Gegenstände und Fragen, und
zwar in der leichten, populären Weise, die er dem Cicero abgesehen
hat. Wenn er seine Thätigkeit im Ganzen, das Wesen des streben-
den Mannes, als den er sich darstellt, aussprechen will, so braucht
er die Worte Poesie und Poeta, wobei er nicht gerade an Dichtung
im höheren und engeren Sinne des Wortes denkt, sondern darunter
die freie Aeusserung eines denkenden und vorgeschrittenen Mannes
in lateinischer, dem Vorbilde der Alten entsprechender Rede, sei es
in Versen oder in Prosa, versteht. Es kommt ihm also auf praetiseh
moralische Belehrung in schöner Form an, wobei denn jene Ansicht,
dass die Dichtung überwiegend Allegorie sei, stillschweigend voraus-
gesetzt ist.
Man sieht hieraus, die Nachahmung der Alten, welche er durch
Rath und Beispiel empfiehlt, ist keineswegs eine sclavische; das
patriotische Motiv, dass sie die Vorfahren der heutigen Italiener sind,
istüitsprecliend, aber nicht ausschliesslich entscheidend. Seine Vor-
liebe für die Antike ruht vielmehr auf (ler Ueberzeugung von ihrem
inneren Werthe; er findet in ihr, im Gegensatzemgeg-{feh-Üdiiemgetheilte,
auäsäiifiit Denkweise der scholastischen ziäiij"'äiä"fieie; einheitliygghe
Entwigkelung des menschlichen Wesens. Allein bei denwdsaittblivchen
Resultaten, die er erreichen will, steht er keineswegesmgauz auf dem
Boden der Alten. Er dringt neben den antiken Tugenden auchauf
speciüsch christliche, auf Demuth und Liebeswärme. Unter den
Schriftstellern stehen ihm Cicexromund Augustinus am höchsten; er
hat also die Antike schon in einerwwöltbiiijgirlichen Form, nach Ab-
streifung der nationalen Züge, und wiederiiin das Christenthuni noch
im Zusamnienhange mit dieser späten Antike vor Augen. Er fasst
beide nicht in ihrem Gegensätze, sondern in ihrer Uebereinstiminung
1) Voist,
Wiederbelebung des klassischen Alterthums,
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