Schongauer.
Martin
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Jahre 1492 nach Colmar kam, wurde er nur von Alartins Brüdern,
wclche theils Goldschmiede, thcils Maler waren 1) empfangenä).
Um ihn mit Sicherheit kennen zu lernen, wird man zuerst seine
Kupferstichc betrachten, deren man jetzt, abgesehen von den zahl-
reichen mit seinem Monogramm versehenen Copien, 139 zählt, meistens
kleine Blätter, doch auch einige grössere in Querfolioformat, fast
alle heilige Gegenstände darstellend, einige wenige mit scharf auf-
gefassten aber harmlosen Figuren nach dem Leben, eine grössere
Zahl mit zum Theil sehr vortrefflichen Vorzeichnungen für Gold-
schmiede. Von Zeichenfehlern ist er nicht frei und ein modernes
Auge wird leicht an gewissen Härten, an den gemeinen Gesichtern,
den mageren Beinen, den gewaltsamen und übertriebenen Bewegungen
der Henker und ähnlicher Gestalten Anstoss nehmen. Aber bei näherer
Betrachtung nndet sich ein Gedankenreichthum und eine Fülle von
Schonheit, welche den Beschauer entzückt und die Mängel vergessen
lasst. Seine Engelsköpfe sind ungemein lieblich, mit wallendem, reich-
gelocktem Haare, von voller kindlicher Rundung, aber mit ausgebil-
deten Zügen und mit sinnigem seeleilvollenulilicke. Auch die Köpfe
jüngerer Frauen und Johannes des Lieblingsjüngers haben ähnliche
Form und nicht bloss das Christkind, sondern selbst der Heiland in
der Reife der Jahre hat etwas von diesem Typus, bei schlankerer
Bildung des Kopfes ein volleres Rund der Wangen beibehalten, was
in der Vorderansicht zuweilen an Weichlichkeit streift. Aber man
empfindet in dieser Wiederkehr derselben lieblichen kindlichen Züge
das Bedürfniss des Meisters, daslieiligste mit allemReize zu schmücken,
alle Süssigkeit, die er empfand, darüber auszugiessen. Auch fehlt es
dann nicht an dem Ernsten und selbst Herben, was das Gegengewicht
hält. Bei Christus selbst ist der Ausdruck des Leidens niemals un-
edel oder übertrieben, der der Würde meistens gelungen, manchmal,
zum Beispiel bei der Gefangennehmung, wo er in der Mitte des Bildes
mit seinem klaren Antlitz so ruhig zwischen den verzerrten, leiden-
schaftlichen Gestalten der Schergen dasteht, in bewundernswerther
Weise gelungen. Maria hat schlankere Züge, fast an das griechische
1) Archivalische Nachweisungen aus Basel und Colmar über die vier Brüder
Schongauerä, Ludwig, Caspar, Georg und Paul iinden sich bei Gerard, les artistes
de l'Alsace pendant le moyen age, II. S. 228, 353, 389 und 401.
2) Wimpheling hatte in einem seiner Werke noch beim Leben Dürer's diesen
den Schüler lllartin Sch0ngauer's genannt, und dies veranlasste den Nürnberger
Gelehrten, Christian Scheurl, bei Dürer selbst darüber anzufragen, der ihm dann
die im Texte angeführten Nachrichten gab und hinzufügte, dass er Martin Schon-
gauer, obgleich er es gewünscht, niemals gesehen habe. Vgl. die Stelle des Scheurl
in meinem Aufsatz a. a. O. und in dem von His-Heusler.