Erstes
Kapitel.
Französische
Malerei
des
Jahrhunderts.
15
Im vierzehnten und am Anfange des fünfzehnten Jahrhunderts
sahen wir die französischen und niederländischen Maler in engster
Genossenschaft; sie bildeten fast eine einzige Schule. Die Gattung,
in der sie sich vorzugsweise gefielen, war die Miniaturmalerei, die
schon seit Jahrhunderten ihren Hauptsitz in Paris hatte und beson-
ders von den französischen Prinzen begünstigt wurde. Auch der
burgundische Hof war aber ein französischer und auch im Dienste
der französischen Könige und Prinzen tirbeiteten Niederländer neben
französischen Künstlern. Beide wetteiferten mit einander und wenn
jene sich vor diesen durch einen treuen und naiven Naturalismus
auszeichneten, so nahmen sie dagegen von ihnen manche Rücksichten
des Geschmackes und der Anordnung an. Mit dem höheren Auf-
schwunge, den die niederländische Kunst seit den Tagen der Brüder
van Eyck nahm, begannen beide Schulen sich zu trennen. Schon die
politischen Schicksale trugen dazu bei; gerade in der Zeit, wo die
Leistungen beider Brüder die erste Begeisterung hervorriefen, war
Frankreich durch den unglücklichen Krieg mit den Engländern an
den Rand des Abgrundes gebracht und nicht in der Stimmung, sich
der Kunst hinzugeben. Allein der letzte entscheidende Grund lag
nicht in dieser ausseren Hinderung. Auch nach dem Frieden, als
das reiche Land sich rasch erholte und mit dem Luxus auch die
Kunst wieder in Aufnahme kam, finden wir nicht, dass die französischen
Maler sich der nun vorgeschrittenen und weithin berühmten üandrischen
Schule mit grossem Eifer anschlosscn. Sie suchten allerdings von ihr
zu lernen, aber sie folgten ihr nur mit Vorbehalt. Die Verschieden.
heit des Nationalcharakters machte sich geltend. Zu der völligen