Memlingüs Eigenart gegenüber seinen Vorgängern.
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das vielköpiige Thier und die Schrecken der letzten Tage, endlich
die vier Reiter auf trefflich gezeichneten Rossen kühn einhersprengend,
dies an der Küste des tiefgrünen, krystallhellen Meeres, das diese
Gegend von Pathmos trennt und in dem sich jene ganze Erscheinung
wunderbar wiederspiegelt. Auf den Aussenseiten der Flügel endlich
sind in leichterer Farbe je zwei knieeude Gestalten der Stifter, wie-
derum Brüder und Schwestern des Hospitals, nebst ihren Schutz-
heiligen dargestellt. Auf dem Rahmen lesen wir auch hier dieselbe
Inschrift, wie "auf jenem ersten kleinen Altärchen: Opus Johannis
Memling, mit der erst in römischen. Buchstaben, dann in Ziffern ge-
schriebenen Jahreszahl 1479. Einige Missverständnisse in der Form
der Buchstaben und dann die Jahreszahl selbst machen indessen diese
Inschrift verdächtig und lassen darauf schliessen, dass sie, wenn nicht
ein jener Inschrift des kleinen Altars nachgebildeter moderner, etwa
im vorigen Jahrhundert entstandener Zusatz, so doch die Renovation
einer älteren Inschrift ist, bei welcher man die unleserlich gewordene
Jahreszahl- durch die auf jenem ersten Bilde vorgefundene von 1479
ersetzte. Sie ist gewiss nicht richtig; zwischen jenem schüchtern und
jugendlich gemalten Bilde und diesem reifsten Werke vollendeter
Meisterschaft müssen mehrere Jahre verilossen sein. Erst hier lernen
wir Memling in seiner ganzen Vielseitigkeit kennen. Vor Allem
nimmt die Gruppe der heiligen Frauen unsere Aufmerksamkeit in
Anspruch; sie ist gewissermaassen etwas Neues in der iiandrischen
Kunst. Die Darstellung der Madonna in der vollsten Pracht welt-
lichen Prunkes, von Teppichen, Goldschmuck und edlen Steinen um-
geben, war zwar schon langst ein beliebter Gegenstand. Johann van
Eyck war anhaltend damit beschäftigt gewesen. Aber ich glaube
nicht, dass er oder einer seiner Nachfolger eine solche Fülle von
Anniuth und Liebreiz erreicht hätte, wie sie über diese so streng
symmetrisch und doch in so voller Natürlichkeit geordnete Gruppe
ausgegossen ist. Man muss auf die frühen Erzeugnisse der Kölner
Schule zurückgehen, auf die, welche wir Meister Wilhelm oder der
Jugend des Meisters Stephan zuschreiben, um dieselben Motive, das.-
selbe Ideal jungfraulicher Reinheit und Zartheit, dieselbe Süssigkeit
wiederzufinden. Die flandrische Schule hatte seit den Tagen Hubertis
van Eyck eine andere, ernstere, mehr männlich verständige Rich-
tung genommen. Sie strebte danach, die grossen Mysterien der
Schöpfung und des Christenthums zu versinnlichen, der hergebrachten
kirchlichen Andacht zu dienen, oder moralische Wirkungen hervor-
zubringen. Ihre Poesie war episch oder didaktisch; jene jugendliche
Lyrik der älteren Kölner Schule, das zarte Minnespiel mit dem
Schnaascfs Kunstgesch. VIII. 16