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Eyck.
van
J ohanu
Hubert und
Laien auf dem Hauptbilde, die Wandernden und besonders die Reiter
sind reich an bedeutungsvollen Charaktergestalten, an individuellen
Zügen, an mannigfaltigen Bewegungen; die Körperformen sind sicher
und anschaulich modellirt, die Costüme phantastisch reich, die Stoffe
meisterhaft ausgeführt. Auch die Rosse, obgleich etwas zu allgemein
gebildet, sind bewegt und natürlich. Trotz dieser unendlichen Fülle
von Einzelheiten ist das Ganze doch überaus klar und übersichtlich.
Dies wird zunächst durch die Anordnung bewirkt, indem jene vier
Schaaren, die zu dem Lamme hinstreben, dasselbe als den Mittelpunkt
des Ganzen bezeichnen; die vorderen Schaaren, indem sie sich über
die Flügel erstrecken, die anderen, indem sie in pyramidalischer Rich-
tung auf die obere Reihe der göttlichen Gestalten hinweisen, welche
dann noch vermittelst der auf der Mitteltafel über dem Lamme schwe-
benden Taube mit jenem irdischen Hergange in näheren Zusammen-
hang gebracht wird. Die untergegangene untere Tafel, von der van
Mander spricht, diente dann dazu, diesen Rhythmus noch klarer zu
machen, indem die Hölle in ihrem Gegensatze zum Himmel die cen-
trale Bedeutung der Erde, und die Haltung der zum Lamme empor-
blickenden Seelen die des Lammes deutlich betonten. In demselben
Sinne ist dann die Farbenwirkung berechnet, indem jene dichtgeschlos-
senen, farbenreichen Gruppen von Andächtigen und hlärtyrern auf
dem einheitlichen, bis zu den blauen Bergfernen und dem lichten
Himmel reichenden Grün der Vegetation wie auf einem durchgehenden
Grundtone sich bewegen und einen tiefgestimmten, reichen aber feier-
lichen Akkord bilden. Die ganze Anordnung hat noch viel von mittel-
alterlicher Kunst; der Aufbau entspricht völlig den drei Stockwerken
der für die Mysterien üblichen Bühne, die ebenfalls Himmel, Erde
und Hölle gleichzeitig zeigte; das streng Symmetrische und die linea-
ren Beziehungen lassen noch die Schule erkennen, welche die Plastik
r an den Facaden der Kathedralen durchgemacht hatte. Aber Alles ist
hier von höherer Freiheit durchdrungen. Statt der sinnreichen, aber
spitziindigen und äusserlichen Zusammenstellung scholastischer Begriiie
ist hier die organische Entwickelung eines tiefsinnigen Gedankens
gegeben. Das Mittelalter hielt sich streng an die Aeusserlichkeit der
überlieferten Worte; hier fühlt sich der Künstler berufen, dieselben
frei in seine Sprache zu übertragen. Aus der geheimnissvollcn, weiss-
gekleideten Schaar, aus den hundertundvierundvierzig Tausend, welche
den Namen des Vaters an ihren Stirnen geschrieben hatten, sind die
geschichtlichen Gestalten der Märtyrer, die Stände der Christenheit
geworden, die auf dem wohlbekannten Rasenteppich der festen Erde
in der farbenreichen Tracht der damaligen Zeit auftreten. Die apo-