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Anfänge einer Neugestaltung der Kunst bei
den Völkern nördlich der Alpen.
Muth und das Interesse geben mussten, auf diesem Gebiete nach dem
Höchsten zu ringen.
So lange die mittelalterliche Kunst überwiegend ideal und archi-
tektonisch gewesen war, hatten die Niederländer mehr einen passiven
Antheil an ihr genommen. Sobald sie in das Stadium der Malerei
getreten war, erwachte ihr Kunstgefühl, wenn auch sehr allmälig.
Die wenigen in den Niederlanden erhaltenen Werke aus der der Er-
findung der Brüder van Eyck unmittelbar vorhergehenden Zeit lassen
noch keine erhebliche Aenderung erkennen, höchstens einzelne Spuren
eines ziemlich formlosen Naturalismus. Dagegen finden wir unter
den zahlreichen Künstlern, welche für die kunstliebenden Prinzen des
französischen Königshauses arbeiteten, viele und zwar die angesehen-
sten von niederländischer Herkunft, aus Brügge, Lüttich, Limburg,
aus dem Hennegau und selbst aus Hollandl); und ihre zum Theil
noch erhaltenen Miniaturen lassen erkennen, dass sie die Gunst ihrer
Herren vorzüglich ihrem naiven Naturalismus verdankten. Der künst-
lerische Beruf des Volkes zeigte sich also nicht sofort durch Gründung
einer eigenen Schule, sondern nur als zufällige Begabung Einzelner
und im Anschluss an den französischen Geschmack. Es ist merk-
würdig aber erklärlich, dass die Niederländer hier sich vor den Ein-
geborenen auszeichneten und von den einheimischen Kennern diesen
vorgezogen wurden. Die französische Kunst, in der Schule der Archi-
tektur an feste Unterordnung des Einzelnen unter das Ganze gewöhnt,
überdies jetzt durch den Einfluss mouarchischer Gesinnung und
höfischer Bildung in dieser Richtung bestärkt, konnte sich nicht zu
dem dreisten und heiteren Naturalismus und zu der tieferen Aus-
bildung des Individuellen entschliessen, welche jetzt zeitgemäss waren
und selbst von den einheimischen Liebhabern gefordert wurden. Diese
Beziehung zu der französischen Schule war für die Niederländer
nicht bloss ermuthigend, sondern auch innerlich vortheilhaft; sie
lernten dadurch, sich der Disciplin, die bei den Franzosen vielleicht
schon allzu sehr herrschte, einigermassen zu unterwerfen und so ihren
Naturalismus mit den Anforderungen höherer Ordnung und Harmonie
zu verbinden. Aber freilich konnten sie bei den Resultaten dieser
französischmiederländischen Praxis nicht lange stehen bleiben; um
sich mit äusserlicher Eleganz und anmuthiger Naivetät zu begnügen,
waren sie zu realistisch, zu religiös, zu germanisch. Die Kunst war
ihnen nicht bloss ein aristokratischer Lebensgenuss, sondern ein
volksthümliches, religiöses Bedürfniss. Wenn den Romanen die scho-
1) Näheres oben Band VI.
554 ff.