94
den
Anfänge einer Neugestaltung der Kunst bei
Völkern nördlich der
Alpen.
Provinzen, besonders in dem germanischen Theile von Flandern,
das schon frühe durch Gewerbthätigkeit und Handel zu materiellem
Wohlstande gedieh. Bis zur Mitte des zwölften Jahrhunderts hatten
sich diese Gegenden noch nicht zu geistigem Selbstgefühl und na-
tionaler Individualität entwickelt. Selbst die Sprache unterschied
sich noch nicht von der deutschen; es wurden verschiedene Dialekte
gesprochen, welche sich meistens mehr dem niederdeutschen (säch-
sischen) annäherten , aber auch fränkische Elemente enthielten 1).
Erst gegen das Ende des zwölften Jahrhunderts, wo die flandrischen
Städte schon in lebendigem Handelsverkehr standen und ein Ueber-
gewicht über die benachbarten Provinzen erlangt hatten, bildete sich
unter ihnen eine gemeinsame, ihnen eigenthümliche Sprache, welche
sehr bald auch in literarische Anwendung kam. Es war dies in-
dessen nicht die freie That ihres wachsenden Selbstgefühls, sondern
eine Folge der Aenderungen, welche gleichzeitig in Deutschland und
Frankreich eintraten. Während nämlich Frankreich einen gewaltigen
Aufschwung nahm und französisches Ritterthuni und französische
Poesie auf ganz Europa und nicht am wenigsten auf das nahe und
politisch verbundene Flandern einwirkten, gewann in Deutschland das
Hochdeutsche die Herrschaft, also eine dem schwäbischeirDialekte
nahestehende, dem Niederdeutschen schwer zugängliche Sprachform.
Während daher die französische Literatur eine stärkere Anziehungs-
kraft ausübte, verlor das Band, welches Flandern bisher an Deutsch-
land gefesselt hatte, seine Kraft. Aber ganz in das französische
Lager überzugehen, waren dieFlamländer keinesweges geneigt, ge-
rade jetzt, gerade im Gegensatz gegen das Hochdeutsche war die
Liebe für die einheimische, zutrauliche Sprache, war das Gefühl ihrer
nationalen Eigenthümlichkcit recht rege geworden. Es entstand daher
jetzt eine niederländische Literatur, die zwar fast ausschliesslich
nicht eigene Erfindungen, sondern nur wörtliche Uebersetzungen fran-
zösischer Gedichte brachte, aber doch die Sprache bildete und das
Nationalgefühl kräftigte. Dabei bemerkte man dann aber sehr bald,
dass auch das Stoifliche jener französichen Rittergedichte dem ein-
heimischen Volkscharakter nicht zusagte. Dieser ist derb, einfach,
bürgerlich, entfernt sich nicht gern von dem Boden der wirklichen
Natur; in diesen Gedichten "war alles phantastisch, wunderbar, ausser-
ordentlich; der niederländische Leser konnte bei dieser Häufung von
Abenteuern und Wundern, bei den fast übermenschlichen Waffen-
Literatur.
der niederländischeh
1) W. J. A. Jonckbloets Geschichte
Ausgabe, Leipzig 1870. Bd. I. S. 5 ff.
Deutsche