Vorzüge der
flandrischen Provinzen.
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kein Zufall oder doch das Zufällige nicht das Entscheidende; unter
einem unempfänglichen, wenig begabten Volke würde jene Erfindung
schwerlich entstanden, jedenfalls ohne Nachfolge geblieben sein.
Ebenso wenig darf man auf die Prachtliebe des burgundischen Hofes,
auf den Reichthum der iiandrischen Städte, auf die Blüthe und Wohl-
habenheit des ganzen Landes, die in der That eine hohe Stufe er-
reicht hatte, zu grosses Gewicht legen. Die Kunst bedarf allerdings
der äusseren Gunst; der Reichthum ist für sie fast ebenso nöthig,
wie der Sonnenschein für die Pflanzen. Aber wie dieser fördert er
nur die bereits vorhandenen Keime und vermag nicht, sie in un-
fruchtbarem Boden zu erzeugen. Der Grund dieser Kunstblüthe
kann daher nur in einer Begabung des Volksstammes" beruhen, welche
gerade den Bedürfnissen dieser Epoche entsprach. Diese Begabung
ist denn auch sehr wohl zu erkennen und zu erklären.
Das Talent des Einzelnen mag man als ein unmittelbares und daher
keiner Erklärung unterliegendes Geschenk Gottes betrachten; die Be-
gabung eines Volksstammes hängt stets mit nachweisbaren Thatsachen
und Eigenschaften zusammen. Die Kunst liegt im Wesen des Menschen,
eine allgemeine unbestimmte Anlage zur Kunst ist jedem Volke ge-
geben. Aber dieser zarte Keim ist leicht erstickt oder verletzt,
kommt daher nur selten zu umfassender Entwickelung und erhält
jedenfalls seine Richtung und Gestalt durch die äusseren Umstände.
Zu diesen gehört vor Allem die Natur des Landes, und da ist es
denn eine bekannte und sehr begreifliche Erfahrung, dass die Ebene,
namentlich die an grosseWassermassenigrenzende oder von ihnen
durchzogene, den Sinn für das Malerische weckt und nährt. Wo
Gebirge mit ihren mannigfaltigen, mehr oder weniger schönen Formen
das Auge fesseln und beschäftigen, erscheint Licht und Farbe nur
als ein unter-geordnetes, begleitendes Moment. Wo sich die Fläche
unterschiedslos erstreckt, nimmt die wechselnde Beleuchtung, das
Farbenspiel an dem weithin geöffneten und unbeschränkten Himmels-
gcwölbe und besonders der Wiederschein desselben in dem glänzen-
den Wasserspiegel das ganze Interesse in Anspruch. Jeder, der
längere Zeit theils im bergigen Lande, theils an ebenen Küsten zu-
gebracht, kann diese Wirkung an sich selbst beobachten. Wie unter
den Italienern die Venetianer, sind daher im Norden die Niederländer
auf ihrem dem Meere abgewonnenen Wasser-reichen Boden vorzugs-
weise die Koloristen. Auch das Klimatische des Nordens wirkt in
derselben Richtung. In südlichen Ländern, wo die milde und gleich-
massige Temperatur eine bessere Ausbildung des Körpers und eine
weniger verhüllende Tracht gestattet, wo in der durchsichtigen Luft