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einer Neugestaltung der Kunst bei den Völkern nördlich den Alpen.
Anfänge
Charakter einer feierlichen geweiheten Stimmung verleihet. Däzu
kommt endlich die Ausführung des Hintergrundes, welche bald die
volle Schönheit der Natur in Wald und Feld, bald ernste oder ge-
müthliche Innenräume, gewöhnlich nicht ohne eine Fernsicht durch
Fenster oder Thüren, beide aber von dem Mysterium des Lichtes,
dem Symbol der göttlichen Gnade, erfüllt und beleuchtet zeigt. Wir
blicken wie in eine verklärte Welt; es ist unsre heimische, wohl-
bekannte Erde, es sind Menschen wie wir, mit Schwächen und Sün-
den, aber statt der Kämpfe und Mühseligkeiten, unter denen wir-
leben, ist Friede und heilige Ruhe eingetreten.
Man hat die Erfindung der Oelmalerei in das Jahr 1410 gesetzt,
und gewiss ist aus Gründen, die sich später ergeben werden
dass sie um 1420 schon vollendet sein musste. Vergleichen wir nun
die Gemälde der Brüder van Eyck mit denen der unmittelbar vor-
hergegangenen Meister, etwa mit den Altarbildern, welche Melchior
Broederlein zwischen 1391 und 1398 für den Herzog von Burgund
ausgeführt hatte und mit den gleichzeitig oder selbst einige Jahre
später entstandenen Werken der Kölner Schule, so müssen wir über
die gewaltige Verschiedenheit erstaunen. Dort eine Kunst, welche
ungeachtet einzelner naturalistischer Züge sich mit allgemein gehal-
tenen typischen Gestalten begnügt; hier das Bestreben, die Natur,
sowohl die grosse irdische, als die des individuellen Menschen, den
Makrokosmos und den Mikrokosmos, in ihrer vollsten Wahrheit zu
erfassen. Es ist nicht bloss eine künstlerische Verschiedenheit, son-
dern eine andere Weltauifassung; dort eine conventionelle, welche
die Erscheinungen nur im Lichte eines überlieferten Systems dar-
stellt, hier eine unbefangenere, welche sich der Natur hingiebt, ihr
bis in die feinsten Einzelheiten nachgeht, sie wie ein heiliges Ge-
heimniss ehrt. Es mag sein, dass dieser neue Geist noch nicht völlig
die Richtung hat, die er bald darauf im sechszehnten Jahrhundert
annimmt, aber der wichtigste Schritt ist bereits geschehen, an die
Stelle der früheren Vernachlässigung der Natur ist eine innige Ver-
ehrung derselben getreten.
Wir stehen mit dieser künstlerischen Leistung auf dem Boden
der neueren Geschichte.
Da ist es denn sehr merkwürdig, in wie schneller, eigenthüin-
licher Weise dieser Uebergang sich vollzieht. Ueberall, wo wir sonst
die Entwickelung der Kunst beobachteten, fanden wir, dass ihr das
Leben verarbeitete. Der Gedanke, welcher das Volk bewegt, äussert
sich zuerst in der Bildung sittlicher, rechtlicher, politischer Verhält-
nisse und geht erst später dazu über, das Ideal künstlerisch zu