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Anfänge einer Neugestaltung der Kunst bei den Völkern nördlich der Alpen.
schon hoch bedeutende technische Erfindung erhielt dann aber da-
durch einen sehr viel höheren Werth, dass die Erfinder sich des-
künstlerischen Zieles, zu dem sie führen konnte, vollkommen bewusst
waren und es mit der höchsten Energie und mit bewundernswerther
Genialität erstrebten. War es durch diese neue Methode möglich,
der Natur mehr zu genügen, die Gesammterscheinung in ihrem
organischen Zusammenhange darzustellen, so gehörte doch auch ein
tieferes Verstitndniss der natürlichen Form und der Lichtwirkungen
dazu, als die bisherige Kunst besass. Die Brüder van Eyck wussten
sich, während sie jene technische Erfindung ausbildeten, auch dies
Verständniss zu erwerben. Dass sie dabei theoretische Hülfsmittel
oder Lehrmeister gehabt, Anatomie und Perspective wissenschaftlich
betrieben hatten, ist nicht anzunehmen; solche Studien verbergen
sich nicht leicht, sie würden sich in den Werken durch eine gewisse
Einseitigkeit bemerkbar machen, wie dies bei den italienischen Malern
dieses Jahrhunderts so oft der Fall ist. Aber sie haben viel nach
der Natur gezeichnet und gemalt, selbst nach dem nackten Modell.
Und ebenso wie mit der menschlichen Gestalt verfahren sie mit allen
Dingen. Die conventionelle Auflassung der Pflanzen, mit der sich
das Mittelalter begnügte, liegt weit hinter ihnen; sie lieben die
Vegetation kräftig und anmuthig darzustellen, sie üben sich, die
Verschiedenheit der Baumarten kenntlich zu machen. Der Gold-
grund verschwindet fast ganz, statt dessen bilden sorgfältig aus-
geführte landschaftliche Hintergründe mit freiem blauem Himmel
oder Innenräumen von Gemächern oder Kirchen die Regel. Mit der
Linienperspective sind sie ziemlich gut bekannt; sie wissen sie so-
wohl bei der Construction jener Innenräume als bei städtischen
Strassen und landschaftlichen Fernsichten richtig und mit Vorliebe
anzuwenden. Aber sie ist immer nur ein untergeordnetes Mittel für
den Zweck der ganzen Darstellung. Von der Luftperspective wissen
sie weniger, die Farben des Himmels sind zwar naturgemäss an-
geordnet und fernen Bergreihen geben sie den lichten bläulichen
Ton. Aber geringere Entfernungen beachten sie nicht und geben
den innerhalb derselben befindlichen Gegenständen dieselbe Kraft der
Farbe. Dagegen sind andere optische Phänomene ihnen sehr an-
ziehend; Glaskugeln mit durchscheinendem Lichte, klare Quellen und
vortreffliche Schrift von Sir Charles Eastlake, Materials for a history of oil paint-
ing, London 1847, geben dies Resultat, welches durch den Aufsatz: Ueber Jan van
Eycläs Geheimniss der Oelmalerei, von Ernst Harzen im deutschen Klmstblatt
1851 S. 147 mit vorzüglicher Klarheit ausgesprochen ist.