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Anfänge
einer Neugestaltung der Kunst bei den Völkexn nördlich der Alpen.
Wo ein berechtigtes Bedürfniss von ganzen Völkern oder Ständen
empfunden wird, wo demgemäss Viele nach der Befriedigung desselben
streben, pflegt die Erfindung nicht auszubleiben. Sie entsteht dann
oft stufenweise durch Mehrere, so, dass der Eine das wirksame
Mittel zwar entdeckt, aber noch nicht vollständig ausnutzt, während
Andere dann leicht den richtigen Gebrauch, dessen es fähig ist, er-
kennen. Sie kann aber auch durch besondere Gunst der Umstände
oder durch die Weisheit und Mässigung des Erfinders schon bei die-
sem bis zur vollen Reife gedeihen, so dass sie unmittelbar aus seinem
Haupte wie die gerüstete Minerva in die erstaunte Welt tritt und
für lange Zeit keiner bedeutenden Verbesserung bedarf.
S0 geschah es in diesem Falle. Die grosse Eründung, welche
einen neuen Aufschwung der Malerei herbeiführte, wurde an derselben
Stelle, in der Werkstätte ihrer Urheber gleich so weit gefördert, dass
sie keiner erheblichen Ergänzung bedurfte und von da aus ihren
Weg in alle Länder nahm. Alle Berichterstatter sind darüber ein-
verstanden, diese Erfindung der Provinz Flandern zuzuschreiben, und
unsere Forschungen bestätigen dies vollständig, nur dass wir Johann
van Eyck allein zuschreiben, was wahrscheinlich von seinem älteren
und viel früher verstorbenen Bruder Hubert oder doch von beiden
Brüdern gemeinschaftlich ausging. Die Neuerung bestand keineswegs
allein in einer Verbesserung der Farben. Wenn sie vielleicht den Ge-
brauch der, wie gesagt, stets bekannt gewesenen Oelfarbe durch gewisse
chemische Mittel erleic hterte, was nicht unwahrscheinlich, aber auch nicht
mit Bestimmtheit nachzuweisen ist, so war dies nur eine Nebensachel).
1) Facius in seinem 1456 geschriebenen Buche „De viris illustribus" sagt bei
dem Rubine des Johannes, dass er viele Erfindungen über die Eigenthümlichkeiten
der Farben gemacht haben solle (putaturque multa de colorum proprietatibus
invenisse) und diese Angabe, wenn sie auch nur von einem italienischen Literaten
herrührt, der weder Sachverständiger noch genau unterrichtet war, beweist doch,
dass schon die Zeitgenossen ihm eine Verbesserung des Farbenmaterials zuschrieben.
Auch Antonio Averulino (Filarete) in seinem ungefähr gleichzeitigen Manuscript
deutet an, dass bei der Oelmalerei des Johann van Eyck und des Ruggiero (des
Roger van der Weyde n) ein ihm unbekanntes Mittel angewendet werde, um der
{Farbe ihre zu grosse Dunkelheit zu nehmen. Er nennt den Ertinder dieses Mittels
aber nicht geradezu (Vgl. die Herausgeber des Vasari, V01. IV. S. 99), offenbar
fallt derselbe mit dem derOeImaIerei selbst zusammen. Die Bezeichnung seiner
Eründung als die der "Oelmalerei" (il colorito a olio, Vasari Introduzione, cap_ XXI.)
gehört erst dem folgenden Jahrhundert an, wo die Thatsache, (lass man schon
vorher mit Oelfarben gemalt, in Vergessenheit gerathen war und die ausführliche
Erzählungwie Johann zu dieser Erfindung gekommen, welche Vasari imiLeben
des Antonello von Messina giebt (Vol. lV. p. 7 5), ist eine der gewöhnlichen Am-
pliücationen, welche dieser Schriftsteller für erlaubt und nöthig halt.