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Anfange
einer Neugestaltung der Kunst b'ei
Völkern nördlich der Alpen.
den
zu wirken, hatte die oberflächliche Kenntniss der menschlichen Ge-
stalt, verbunden mit architektonischem Stylgefühl, ausgereicht. Sollte
die Malerei aber das Gemüth ergreifen und erschüttern, den Be-
Schauer mit den Gefühlen erfüllen, welche die wirkliche Erscheinung
in ihm erweckte, so bedurfte sie viel tieferer Studien. Sie musste
die Gestalten des Menschen, der Thiere, der Pflanzen, die Gesetze
des Raumes und der Lichtwirkung näher kennen lernen, von der
Anatomie, der Perspective, der Optik wenigstens so viel wissen, um
nicht auffallend gegen die Wahrheit zu verstossen. Ausserdem musste
sie aber auch die Mittel besitzen, das Wahrgenommene und Erkannte
künstlerisch wiederzugeben. Die bisherige Wandmalerei war wohl
geeignet, grosse Flächen mit iigurenreichen Oompositionen zu füllen,
aber sie machte nur den Anspruch, die heiligen Geschichten in
epischer Ruhe zu erzählen, wozu dann ihre leichte, der colorirten
Zeichnung ähnliche Weise ausreichte. Die Tafelmalerei gab ihren
Gestalten zwar schon eine gewisse Rundung und stattete sie mit
glänzenden, der Wirklichkeit sich annäherenden Farben aus, aber
den feineren Uebergängen in der natürlichen Körperbildung und den
Gegensätzen der Beleuchtung konnte sie nicht folgen. Sie stellte
sich keine andere Aufgabe, als die der bemalten Plastik, mit der
sie oft an demselben Werke verbunden war. Ihre Technik selbst
hatte etwas Plastisches; man trug auf der wohl vorbereiteten Tafel
zuerst die Localfarben, dann, wenn diese getrockfnet waren, die fei-
neren Nüancirungen, Lichter und Schatten in glatten Lagen auf und
überzog dann das Ganze mit einem Firniss. Inl technischen Einzel-
heiten, in der Farbenmischung, in dem Bindemittel, dessen man sich
bediente, in der Bereitung des Firnisses wichen die Maler in den
verschiedenen Ländern und selbst in einzelnen Werkstätten von
einander ab. Aber das Gemeinsame der damaligen Technik, der
Temperamalerei, wie wir sie im Gegensatze zur Oel- und Wasser-
farbenmalerei nennen, bestand eben darin, dass man die Modellirung
und die Abstufungen des Lichtes nicht in die Grundfarbe durch
Mischung mit anderen, helleren und dunkleren Tönen hineinmalte,
sondern jede Nüance vorher in besondern Töpfen oder Schalen be-
reitete und dann an der geeigneten Stelle auf die Untermalung auf-
trugl). Um dies ausführen zu können, bedurfte man eines schnell
1) Vgl. den Trattato della pittura des Cennino Cennini cap. 145. Die antike
Malerei bediente sich schon der Palette. In der Temperamalerei des Mittelalters,
wenigstens in der Schule Giotto's, kannte man sie nicht und entbehrte daher dieses
Mittels der Nebeneinanderstellung mehrerer Farbezinüancen. Man bediente sich