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einer Neugestaltung der Kunst bei den Völkern nördlich der Alpen.
Anfänge
schaft gelangt und hatten schon im 14. Jahrhundert Umgestaltungen
erlitten, welche seinem Geiste nicht entsprachen und mehr oder
weniger mit der von der Antike hergeleiteten Tradition im Zu-
sammenhange standen. Bei der jetzigen Stimmung regte sich der
Gedanke, "sich ganz von ihm zu befreien und an seiner Stelle die
antiken Formen wieder anzuwenden. Man begann daher die antiken
Bauwerke, welche man vorzüglich in Rom noch zahlreich vorfand,
eifrigst zu studiren und suchte demnächst, die an ihnen entdeckten
Formen und Regeln auch bei neuen Bauten anzuwenden und so
einen den Grundsätzen der Antike und den Bedürfnissen der Gegen-
wart zugleich entsprechenden Baustyl zu schaffen. Es war dies also
eine willkürliche, planvoll herbeigeführte Reform, ein Unternehmen,
wie es in der bisherigen Geschichte der Kunst noch nicht vor-
gekommen war, das aber in der eigenthümlichen Stellung Italiens
begründet war und daher auch zu wichtigen Erfolgen, zu einer
Neugestaltung der Baukunst und demnächst auch der anderen Künste
hinführte.
Gleichzeitig mit diesen ersten Schritten der italienischen Re-
naissance entstand auch in den germanischen Ländern eine künst-
lerische Bewegung, aber in ganz anderer fast entgegengesetzter
Richtung. Von einer Begeisterung für die Antike oder von einem
Widerstreben gegen die Gothik konnte hier nicht die Rede sein. Zu
einer Reform der Architektur war überall keine Veranlassung. Diese
trug zwar, wie wir gesehen haben, bereits starke Spuren des Ver-
falls, aber, wie gesagt, dieser war eben ein Verfall des allgemei-
nen Geschmackes, den daher Niemand bemerkte, während derselbe
conservatiire Sinn, der sich in der Erhaltung der rechtlichen In-
stitutionen des Mittelalters zeigte, auch den hergebrachten baulichen
Formen zu statten kam und selbst den Gedanken einer Aenderung
derselben nicht aufkommen liess. Das Bedürfniss einer solchen regte
sich nur da, wo die hergebrachten Formen den veränderten Gefühlen
nicht mehr entsprachen, und dies war nicht auf dem Gebiete der
Baukunst der Fall, sondern nur auf dem der Malerei, bei ihrer Dar-
Stellung der natürlichen Erscheinung. Jene schlanken Gestalten mit
der bleichen Carnation, dem kleinen Munde und der fast unnatürlich
weichen Biegung des Körpers, wie sie die bisherige Kunst schuf,
hatten genügt, so lange man die Natur nur mit iiüchtigem Auge be-
trachtend in abstracten Empfindungen lebte und die Frömmigkeit
vorzugsweise in der Unterwerfung unter die Kirche suchte. Seitdem
man aber angefangen hatte, die Natur in ihrer Objectivität mit Liebe
und Erbauung zu betrachten, seitdem man ahnte, dass es vor Allem