Ausgang der italienischen Renaissance
von der Architektur.
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so lange hinter den nordischen Völkern zurückgestanden und von
ihnen empfangen hatte, schien ihnen jetzt vorausgeeilt. Seine Be-
wohner konnten mit Befriedigung und Stolz auf jene herabsehen.
Sie konnten sich sagen, dass ihr geliebtes Land noch immer das
erste, noch immer wenigstens in geistiger Beziehung die Herrin und
Führerin sei. Das Gefühl für Natur und Individualität, das bei
jenen anderen Völkern erst jetzt erwachte, war hier niemals ganz er-
loschen gewesen, es hatte sich, wenn auch oft in wilder anarchischer
Weise, das ganze Mittelalter hindurch geltend gemacht, dann aber
im 14. Jahrhundert schon eine poetische Entwickelung herbeigeführt,
welche die Nation mit Begeisterung erfüllte und jetzt neue Blüthen
brachte. Auch das Gefühl für Schönheit und Kunst, das sich früher
nur in traditioneller Erstarrung erhalten hatte, war aufs Neue belebt
und hatte die Kunst in kurzer Zeit mächtig gefördert. Sie war ein
Gegenstand des Wetteifers der Städte, der Sorgfalt der Gelehrten
und Staatsmänner geworden. Das Schönheitsgefühl verschmolz in
gewissem Grade mit der Religiosität und diente dazu, die nationalen
Mängel derselben zu bedecken. Der Begriff der schönen oder edlen
Seele vertrat die Stelle eines sittlichen Princips, die schöne Form
wurde ein selbständiger Gegenstand des Strebens. Die Erinnerung
an die Zeit des Glanzes und der Herrschaft, die freilich niemals
ganz erloschen, aber oft nur als Anmassung und leerer Hochmuth
aufgetreten war, hatte jetzt wieder eine gewisse Berechtigung. Man
durfte sich der Hoffnung einer Wiederherstellung jener antiken Herr-
lichkeit hingeben und suchte wenigstens in den erreichbaren Aeusser-
lichkeiten, in der Sprache und in der Kunst, sich der Vorfahren
würdig zu beweisen und an sie anzuschliessen. Das erwachte Schön-
heitsgefühl mischte sich mit dieser Begeisterung für die Antike,
man glaubte in ihr nicht bloss die eigentliche nationale Gestalt Italiens,
sondern auch die wahre Schönheit zu erkennen und versuchte sie
überall herzustellen. Man dachte daher an eine totale Reform der
Kunst nach dem Vorbilde der Antike und begann diese auf dem
Gebiete der Architektur. Gerade in dieser Kunst war die Ver-
schiedenheit der herrschenden Kunstform von den noch zahlreich in
Italien erhaltenen antiken Bauwerken sehr auffallend und vollkommen
erweislich. Der gothische Styl, der der Prachtliebe der Italiener ge-
schmeichelt und daher Eingang gefunden hatte, war unzweifelhaft
fremden Ursprungs und in der That niemals ganz einheimisch ge-
worden. Seine Formen widersprachen zum Theil sogar den klima-
fischen Bedürfnissen und den Gewohnheiten des Landes. Sie waren
daher niemals zu consequenter Anwendung und allgemeiner Herr-