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Anfänge einer Neugestaltung der
der Alpen,
Kunst bei den Völkern nördlich
Diese Resultate waren aber keinesweges identisch. Indem nämlich
die Vertretung der Kunst gerade den beiden Nationen zugefallen
war, bei welchen sich die Reinheit des Blutes am meisten erhalten
hatte, trat auch der Gegensatz des Romanischen und Germanischen
sofort in der Kunst zu Tage. Gerade hier war dieser Gegensatz
sehr fühlbar und es ist sehr merkwürdig, dass er sich bei beiden
Völkern zugleich und so frühe geltend machte, so dass die Re-
naissance schon bei ihrem Beginne gleichsam in zwiefacher Form
auftrat. Bei den romanischen Völkern hatte sich selbst in der Zeit
des tiefsten Verfalls der Begriff der Schönheit und die Kunde von
der Bedeutung und Würde der Kunst in traditioneller Geltung er-
halten. Sie betrachteten diese als ein nothwendiges Erforderniss des
Volkslebens oder doch als einen Gegenstand des Ruhmes und des
Wetteifers, wie dies die pomphaften Inschriften beweisen, welche wir
in Italien oft neben den rohsten Leistungen des Meissels und des
Pinsels antreffen. Die Kunstliebe war daher bei ihnen leicht wieder
angeregt und konnte sich zu kräftiger Begeisterung steigern. Die
germanischen Völker dagegen betrachteten die Kunst mehr von dem
Standpunkte der Nützlichkeit und der Wahrheit, sie war ihnen vor-
zugsweise Dienerin der Religion oder Mittel der Erkenntniss. Jene
suchten daher den Genuss der schönen Form, das dem Auge Ge-
fällige und wandten sich deshalb gern der Antike zu, in welcher sie
dieselbe bereits vorbereitet fanden. Diese legten grösseren Weith
auf die Bedeutung der Gegenstände, hielten sich bei ihrer Dar-
stellung strenger an die Wirklichkeit und glaubten selbst die herben
und unschönen Züge derselben nicht übergehen zu dürfen. Beide
fassten also die Kunst einseitig und von entgegengesetztem Stand-
punkte auf, aber eben dadurch ergänzten sie sich gegenseitig und
eigneten sich zu fruchtbarer Wechselwirkung. ,
Zu dieser Verschiedenheit der künstlerischen Richtung kamen
jetzt die politischen und religiösen Gegensätze beider Völker. Der
Verfall der mittelalterlichen Institutionen, den man jenseits der Alpen
mit Trauer oder doch mit Besorgniss betrachtete, erschien den
Italienern vielmehr als eine Befreiung. Der hartnäckige Kampf des
Kaiserthums und Papstthums war geschlichtet oder wurde wenigstens
nicht mehr auf den italienischen Feldern ausgefochten. Italien war
sich selbst überlassen und konnte sich als frei und selbständig be-
trachten. Auch sonst war das Land in einem blühenden und erfreu-
liehen Zustande; die früh entwickelte Civilisation hatte ihre Früchte
getragen, Handel und Gewerbe blühten und beherrschten den euro-
päischen Markt, die Städte waren reich und mächtig. Italien, das