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der Kunst bei den Völkern nördlich der Alpen.
Anfänge einer Neugestaltung
Anhänglichkeit für die mittelalterliche Form. Dieser Kampf machte
sich auf allen Gebieten des geistigen Lebens geltend, in der Politik,
wo er bei den romanischen Völkern eine Vorliebe für die Formen
imperatorischer Herrschaft erzeugte, in der Kirche, in den Wissen-
schaften, am deutlichsten aber vielleicht in der Kunst, welche über-
haupt sehr bald eine bedeutsame Stellung in der Geschichte der
Renaissance einnahm.
Die Motive der ganzen Bewegung waren ursprünglich rein prak-
tischer Natur, man dachte nur an das Nützliche, an die Beseitigung
der drückend empfundenen Missstände des politischen und kirch-
lichen Lebens, an Befriedigung der neuentstandenen Bedürfnisse, an
erhöhten Lebensgenuss und materiellen Gewinn. Nur in Italien trat,
wie wir später sehen werden, das Künstlerische gleich anfangs einiger-
massen in den Vorgrund. In den übrigen Ländern war die vor-
herrschende Stimmung so wenig ideal oder künstlerisch, dass man
sich eher zu einer trockenen und kühlen Verstandigkeit neigte. Aber
dennoch zeigte sich der angeregte N euerungstrieb sehr bald auch in
der Kunst. Sie gehörte in der That noch zu den praktischen Be-
dürfnissen. Sie war ein nothwendiges Element der kirchlichen
Religiosität, man brauchte sie, um sich die heiligen Gestalten zur
Anschauung zu bringen und sich im Glauben zu stärken. Den Lauen
und Sinnlichen war sie ein erwünschtes Mittel bequemer Busse und
Sühuung, den wahrhaft Frommen und vor Allem den Mystikern und
denen, welche Ernst damit machten, die Natur als eine primitive,
der Schrift vorhergehende Offenbarung zu betrachten, diente sie
wirklich zu religiöser Anregung. Aber auch der weltliche Luxus und
die wachsende Vergnügungssucht bedurfte ihrer, und selbst die ge-
werbliche, schlechthin auf das Nützliche gerichtete Thatigkeit konnte
sie nicht entbehren. Der Gegensatz zwischen dem Schönen und
Nützlichen ist nur ein relativer, dem eine Gemeinsamkeit zum Grunde
liegt. Das Nützliche bedarf der Form, für deren Gestaltung es die
Regeln von dem Gebiete der Kunst entlehnen muss; das Schöne
setzt einen realen Körper voraus, der nach dem Gesetze der Zweck-
mässigkeit und Nützlichkeit gebildet sein muss. Beides steht daher
in engem Zusammenhange.
Vor allem aber diente die Kunst dem Triebe nach Belehrung,
der von dem praktischen Bestreben untrennbar ist und sich damals,
wie wir schon sahen, so mächtig regte. Zu einer wissenschaftlichen
Erforschung der Natur fehlten die Vorarbeiten noch völlig, man
musste erst damit beginnen, sie äusserlich kennen zu lernen, sich
mit ihr vertraut zu machen. Dazu war die Kunst eine vorzügliche,