Volltext: Geschichte der bildenden Künste im 15. Jahrhundert (Bd. 8)

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Anfänge einer Neugestaltung der Kunst bei den Völkern nördlich der Alpen. 
man sich verirrt fühlte, zurück wandte. Antike und Natur fielen in 
diesem Sinne zusammen. 
Freilich aber war diese Uebereinstimmung keine vollkommene; 
das Natürgefühl der christlichen Völker war nicht völlig identisch 
mit dem der antiken Welt. Dieses war sinnlicher und naiver, hielt 
sich mehr in der Mitte der Dinge, in einer leichten, poetischen oder 
oberflächlichen Auffassung, jenes vermöge der durch die scholastische 
Wissenschaft ausgebildeten grösseren Schärfe der Logik und der 
grösseren Wärme des christlichen Gefühls gestaltete sich tiefer und 
abstracter, so dass bald das Einzelne der Erscheinungen, bald das 
Ganze in subjectiver Empfindung Gegenstand der Betrachtung wurde. 
Dieser Unterschied wurde zwar erst bei weiterer Entwickelung des 
modernen Gefühls deutlich erkennbar, während auf der ersten Stufe 
derselben, mit der wir uns zunächst beschäftigen, mehr das Gemein- 
same beider Formen der Wiedergeburt, das Vorherrschen des Natur- 
elements zum Bewusstsein kam. Aber er war doch von Anfang an 
vorhanden und hatte einen wesentlichen, wenn auch nicht sogleich 
erkannten Einfluss auf den Gang der historischen Entwickelungß 
Es knüpft sich dies an den Gegensatz der romanischen und 
germanischen Völker. Die Eigenthümlichkeit des abendländischen 
Gemeinwesens war hauptsächlich dadurch bedingt, dass es nicht einer 
ungebrochenen und deshalb an ihre Naturanlage gebundenen Natio- 
nalität angehörte, sondern aus der Mischung zweier Volksstämme, 
des griechisch-rö1nischen und des germanischen Stammes, hervor- 
gegangen war. Diese Mischung war theils eine physische, indem die 
Bevölkerung des ganzen Abendlandes und der einzelnen dazu ge- 
hörigen Länder aus Individuen beider Stämme in sehr verschiedener 
Mischung zusammengesetzt war, theils aber auch eine geistige, indem 
die Gedanken und Anschauungen beider Stämme zu einem Ganzen 
verschmolzen und in dieser Gestalt Gemeingut des ganzen Abend- 
landes wurden. Das System des Mittelalters selbst wa'r das Product 
einer solchen Mischung. Die Kirche, die Wissenschaft, die gesammte 
Bildung, sogar die Grammatik der germanischen Sprachen waren 
romanischen, die rechtlichen und politischen Institutionen, das Ritter- 
thum, das Lehnswesen, die gesammte religiöse und weltliche Empfin- 
dungsweise waren überwiegend germanischen Ursprungs. Vermöge 
dieses Systems waren also beide Elemente bei allen Völkern des 
Abendlandes, welches auch ihre physische Abstammung sein mochte, 
vertreten, und das lange Bestehen desselben diente wesentlich dazu, 
die Einheit dieser Völker fester zu begründen. Dagegen bildete 
dann die Verschiedenheit der Abstammung der Bevölkerung ivon
	        
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