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Anfänge einer Neugestaltung der Kunst bei den Völkern nördlich der Alpen.
man sich verirrt fühlte, zurück wandte. Antike und Natur fielen in
diesem Sinne zusammen.
Freilich aber war diese Uebereinstimmung keine vollkommene;
das Natürgefühl der christlichen Völker war nicht völlig identisch
mit dem der antiken Welt. Dieses war sinnlicher und naiver, hielt
sich mehr in der Mitte der Dinge, in einer leichten, poetischen oder
oberflächlichen Auffassung, jenes vermöge der durch die scholastische
Wissenschaft ausgebildeten grösseren Schärfe der Logik und der
grösseren Wärme des christlichen Gefühls gestaltete sich tiefer und
abstracter, so dass bald das Einzelne der Erscheinungen, bald das
Ganze in subjectiver Empfindung Gegenstand der Betrachtung wurde.
Dieser Unterschied wurde zwar erst bei weiterer Entwickelung des
modernen Gefühls deutlich erkennbar, während auf der ersten Stufe
derselben, mit der wir uns zunächst beschäftigen, mehr das Gemein-
same beider Formen der Wiedergeburt, das Vorherrschen des Natur-
elements zum Bewusstsein kam. Aber er war doch von Anfang an
vorhanden und hatte einen wesentlichen, wenn auch nicht sogleich
erkannten Einfluss auf den Gang der historischen Entwickelungß
Es knüpft sich dies an den Gegensatz der romanischen und
germanischen Völker. Die Eigenthümlichkeit des abendländischen
Gemeinwesens war hauptsächlich dadurch bedingt, dass es nicht einer
ungebrochenen und deshalb an ihre Naturanlage gebundenen Natio-
nalität angehörte, sondern aus der Mischung zweier Volksstämme,
des griechisch-rö1nischen und des germanischen Stammes, hervor-
gegangen war. Diese Mischung war theils eine physische, indem die
Bevölkerung des ganzen Abendlandes und der einzelnen dazu ge-
hörigen Länder aus Individuen beider Stämme in sehr verschiedener
Mischung zusammengesetzt war, theils aber auch eine geistige, indem
die Gedanken und Anschauungen beider Stämme zu einem Ganzen
verschmolzen und in dieser Gestalt Gemeingut des ganzen Abend-
landes wurden. Das System des Mittelalters selbst wa'r das Product
einer solchen Mischung. Die Kirche, die Wissenschaft, die gesammte
Bildung, sogar die Grammatik der germanischen Sprachen waren
romanischen, die rechtlichen und politischen Institutionen, das Ritter-
thum, das Lehnswesen, die gesammte religiöse und weltliche Empfin-
dungsweise waren überwiegend germanischen Ursprungs. Vermöge
dieses Systems waren also beide Elemente bei allen Völkern des
Abendlandes, welches auch ihre physische Abstammung sein mochte,
vertreten, und das lange Bestehen desselben diente wesentlich dazu,
die Einheit dieser Völker fester zu begründen. Dagegen bildete
dann die Verschiedenheit der Abstammung der Bevölkerung ivon