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Völkern nördlicgh der Alpen.
den
Anfänge einer Neugestaltung der Kunst bei
mehr bestand und fast schon in Vergessenheit gerathen war. Wir
sehen also durchweg die Zeichen beginnender Altersschwäche und
können eine neue Hebung der Kunst nur von einer neuen Gestaltung
des Lebens erwarten.
Durfte man eine solche hoffen? Die Stimmung der Völker (viel-
leicht mit Ausnahme von Italien) wagte es nicht, Sie war entmuthigt
und hielt krampfhaft am Alten fest. Auch die Erfahrung berechtigte
nicht dazu. Die Völker der alten Welt, so weit die Geschichte reicht,
hatten stets nur eine einmalige Blüthe gehabt. Sobald die Ent-
wickelung ihrer Naturanlage ihren Gipfel erreicht hatte, trat ein
Stillstand und bald auch eine Abnahme der Kräfte ein, welche un-
fehlbar, wenn auch vielleicht erst nach Jahrhunderten zäher Er-
haltung, zum Untergange des Volkes führte. Dieser Hergang wieder-
holt sich in der vorchristlichen Geschichte so regelmässig, dass wir
darin ein festes Gesetz erkennen müssen. Durch das Christenthum
hatte aber dies Gesetz seine Kraft verloren, und es war ein anderes
Princip an seine Stelle getreten. Schon der Gedanke einer geoifen-
harten, der freiwilligen Annahme dargebotenen Religion giebt den
Völkern eine höhere Freiheit; er setzt ein Verständniss der Lehre
und mithin die Möglichkeit verschiedener, mehr oder weniger tiefer
Auffassungen und einer wachsenden Einsicht voraus. Das Christen-
thum ist aber mehr als eine blosse Lehre, es ist ein zeugendes
Princip, von dem ein neues geistiges Leben mit allmäliger fort-
schreitender Entwickelung ausgeht, und das daher auch der Erneuerung
und eines vielleicht unbeschränkten Fortschrittes fähig ist. Es ver-
bindet endlich die durch die Verschiedenheit ihrer Naturanlage und
durch ihre Interessen getrennten Völker zu Gliedern einer Völker-
gruppe, also eines Organismus höherer Ordnung, in welchem sie in
Wechselwirkung stehen und sich vermöge ihrer verschiedenen Be-
gabung ergänzen können.
Dies neue Gesetz kam jetzt zum ersten Male zur Geltung. Das
System des Mittelalters war noch nicht aus ihm hervorgegangen,
sondern noch überwiegend ein Naturproduct, welches auf der Mischung
und dem Gegensatze der germanischen Völker und der alten Be-
wohner des römischen Reichs beruhete. Es war allerdings unter dem
Einflüsse des Christenthums entstanden, aber doch nur vermöge einer
ersten, sinnlichen Auffassung desselben, wie sie sich den verschiede-
nen, theils gebildeten, theils ungebildeten heidnischen Völkern gegen-
über empfahl. Jetzt aber, da dies System zu augenscheinlich falschen
Consequenzen geführt und sich als unhaltbar erwiesen hatte, machte
sich der Gedanke der Prüfung der ihm zum Grunde liegenden Prin-