Entartung der Künste am Ausgang des Mittelalters.
67
welche ihre constructive Bedeutung mehr verbarg oder verleugnete,
als betonte. Das Blattwerk verlor seinen stylistischen Ernst und
wetteiferte mit den krausesten Formen natürlicher Pflanzen. Die
Sculptur, die schon an und für sich und besonders hier in ihrer
Verbindung mit einer strengen Architektur auf das Einfache und
Gesetzliche angewiesen ist, strebte nach einer Fülle individueller und
naturalistischer Details, welche die Einheit der Form und die Schön-
heit der Linien zerstörten. Das Ganze löste sich mehr und mehr
in schwach verbundene Einzelheiten auf. Die Malerei endlich, die
jüngste der künstlerischen Schwestern, zeigte zwar keine Spuren "ent-
schiedenen Verfalls, aber auch keine fortschreitende Bewegung. Sie
begnügte sich mit der Wiederholung ihrer bisherigen Leistungen,
während doch jene schlanken Gestalten von mildem, anmuthigem
Ausdrucke und regelmässigen Gesichtszügen auf einfachem farbigem
oder goldenem Hintergründe den Bedürfnissen der neuen Zeit nicht
mehr entsprachen und mit der überladenen Ornamentation der Ge-
haude und der schwerfalligen Plastik in Widerspruch standen.
Vielleicht hatte man diesen Mängeln abhelfen können, wenn
man sie als solche erkannt hätte. Allein davon war man weit ent-
fernt; nicht bloss die Künstler selbst, sondern auch ihre Gönner und
Besteller hielten wohl gar jene Schwachen für Vorzüge, bewunderten
die Künstlichkeit verschrobener Formen und schwelgten in der bunten
Mannigfaltigkeit der Einzelheiten, ohne zu bemerken, dass dadurch
die Einheit des Ganzen zerstört werde. Der Verfall der Kunst war
eben ein Verfall des Geschmacks, von dem die Beschauer ebenso
sehr beherrscht waren, wie die Künstler, er war keine vereinzelte
Erscheinung, nicht ein Leiden, welches ausschliesslich die Kunst traf,
sondern eine Folge des allgemeinen Verfalls, der das ganze Leben
ergriffen hatte. Die Kunst war noch immer ein Spiegelbild des
Lebens; die Altersschwäche, der das Leben erlag, wird an ihr sichtbar.
Die Blüthe der Kunst fällt naturgemäss "in die Jugendzeit der
Villker, wo diese bei einfachen Sitten und geringen persönlichen Be-
dürfnissen neben warmer Empfänglichkeit für alles Gute und Schöne
mit naivem Selbstvertrauen in die Zukunft blickend ein Ideal der
Weltordnung zu erkennen glauben und dasselbe mit freier, leicht-
beweglicher Phantasie künstlerisch verkörpern. Hier finden wir von
allem diesem fast das Gegentheil, künstliche, verwickelte Verhält-
nisse, einen schwerfalligen raffinirten Luxus, statt kühner Begeisterung
eine schwankende, ernüchterte, elegische Stimmung, statt der freien,
schöpferischen Phantasie eine fast zur andern Natur gewordene Ge-
wöhnung an überlieferte Forinen, selbst an solche, deren Zweck nicht
5.