Vorherrschen des religiösen Elementes in der deutschen Literatur.
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wesen sein, in der grossen Masse des Volkes die Leselust zu er-
wecken, die nur durch diese Mittel befriedigt werden konnte. Das
vermochte nur ein religiöses Bedürfniss. Schon im vierzehnten Jahr-
hundert war, wie die Predigten Meister Eckardfs und Tauler's be-
weisen, eine ungewöhnliche Empfänglichkeit und Einsicht für reli-
giöse Begriffe im deutschen Volke verbreitet. Die seitdem einge-
tretenen Ereignisse hatten das Nachdenken darüber noch mehr ge-
schärft und die Brüder des gemeinsamen Lebens, welche die Mystik
der vorigen Epoche von excentrischen Uebertreibungen gereinigt, aber
ihre Gefühlswarnie bewahrt hatten, gaben in ihren zahlreichen Schulen
Anregung und Anleitung zu tieferem Verstandniss. Sie bildeten ge-
wissermassen die Vermittlung zivischen der Gelehrsamkeit und dem
religiösen Gefühl, indem sie in gründlichen philologischen Studien
das einzige Mittel gegen Missdeutung der Schrift erkannten. Die
gesammte Literatur sowohl der Holzschnittbücher als der Incunabeln
der Buchdruckerkunst tragt daher auch ein religiöses Gepräge. Unter
jenen sind nur zwei oder drei weltlichen Inhalts, alle anderen auf
Erbauung und Erweckung bussfertiger Gesinnung gerichtet. Bei den
gedruckten, in Deutschland erschienenen Büchern ist zwar das ge-
lehrte Interesse stärker vertreten, aber doch auch das religiöse vor-
waltend. Die lateinische Bibel gehörte zu den ersten Leistungen von
Gutenbergs Presse, deutsche Uebersetzungen erschienen schon 1466.
Bis zum Jahre 1500 kennt man 98 lateinische, 14 hochdeutsche und
mindestens 3 niederdeutsche Ausgaben. So verbreitet waren deutsche
Uebersetzungen, dass ein zu Basel 1506 erschienenesHandbuch für
Priester dieselben zur Vorsicht bei der Anführung von Bibelstellen
ermahnt, weil ihre Zuhörer dieselben zu Hause nachschlagen möchten 1).
Sehr viel grösser als die Zahl der Bibelausgaben oder der gelehrten
Werke ist aber die von Büchern praktisch religiösen Inhalts. Die.
meisten derselben wollten eine Anleitung zur Selbstprüfung geben.
Seitdem man sich des Verfalls der Kirche bewusst war, hatte sich
eine Gewissensangst der Gemüther bemächtigt; man fühlte, dass die
bisherige Praxis eine zu laxe gewesen war, dass kirchliche Absolu-
tion und gute Werke nicht ansreichten, sondern Reue und eigene
im tiefsten Herzensgrunde geübte Busse unerlässliche Bedingungen
des Heils seien. Man war aber zu sehr an die aussere Leitung ge-
wöhnt, um sich bei der Selbstprüfung und Sündenerkenntniss ganz
auf das eigene Gefühl zu verlassen. Bücher, welche eine Anleitung
1) Geffcken a. a. 0. S. 6 H. Ich verdanke dieser vortreiflichen kleinen Schrift
viele der im Folgenden angegebenen Thatsachen.