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Literatur.
Gebräuche,
Sitten,
Gartens oder Schlosses zusammen und erzählen hier ihre Schicksale,
oder erörtern irgend eine Frage aus dem Codex der Liebe oder der
Ehre. S0 in den trois plaids d'or der Clotilde von Surville, wo drei
Ritter ihre verschiedenen Liebesleiden klagen, oder in dem "Buche
der vier Damen" von Alain Chartier, deren Ritter verschiedene Un-
glücksfälle in der Schlacht erlitten haben. Der eine derselben ist
gefallen, der zweite gefangen, der dritte verschollen, der vierte ge-
flohen, und die Damen streiten nun, welche von ihnen die Bedauerns-
wertheste sei. Diese Erörterungen sind mit unendlicher Gründlich-
keit geführt; in der „Dame sans mercy", ebenfalls von Alain Chartier,
stellt der Liebende in vierzig achtzeiligen Strophen immer neue
Gründe auf, welche das Herz der Spröden rühren sollen, und wird
von ihr mit ebenso vielen Versen von gleicher Länge widerlegt. Und
selbst diese Gründlichkeit erschöpfte nicht die Geduld der höiischen
Gesellschaft, denn gerade an dieses Gedicht reihte sich eine fortge-
setzte poetische Correspondenz zur Vertheidigung, bald der Damen-
welt, wegen des ihr darin gemachten Vorwurfs der Härte, bald des
Dichters, wegen dieser nachtheiligen Schilderung. Man sieht, es
handelt sich hier um ein Spiel des Scharfsinns, an dem sich viele
betheiligen können, nicht um eine tiefgreifende, begeisternde, ahnungs-
volle Poesie. Der Verstand ist mehr dabei beschäftigt, als die Phan-
tasie oder das Herz.
Nur in einzelnen, von dieser höüschen Poesie unabhängigen Dich-
tungen erkennen wir dann trotz der Unbeholfenheit und Pedanterie
der Sprache die wachsende Wärme und Innigkeit des Gefühls. So
wo die eigene, persönliche Empfindung nach einem Ausdruck ringt,
wenn Christine von Pisan ihre Wittwentrauer oder ihre Zärtlichkeit
für den ihr gebliebenen Sohn der kurzen Ehe, oder wenn der un-
glückliche, leicht erregbare Carl von Orleans seine Wehmuth und
die wechselnden Gefühle während seiner langen Kriegsgefangenschaft
schildert. Auch zeigen sich bereits in gewissen, mehr populären
Gattungen manche Züge, die später der ausgebildeten französischen
Literatur zu Gute kamen. So die pikante und graciöse Heiterkeit
der Chansons in den Liedern des Olivier Basselin, oder in den Gauner-
streichen, die Franz Corbueil, genannt Villon, erzählt; so ferner die
dramatische Lebendigkeit und die gutmüthige Satire in der Farce
de Maistre Pathelin. Aber Werke von hohem, bleibendem Werthe,
welche tiefere Einblicke "in die Natur der Dinge oder in das mensch-
liche Herz gewährten, sind auch unter diesen Poesien nicht; sie
gehen über das Gebiet des alltäglichen Lebens nicht hinaus und auch
in ihnen ist der reflectirende Verstand vorherrschend.