Poesie.
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sale der Poesie sich bei den verschiedenen Völkern sehr verschieden
gestalteten.
In Frankreich war sie der monarchischen Richtung der Nation
gemäss ganz in den Dienstpder Fürsten getreten; die berühmteren
Dichter des Jahrhunderts lebten sämmtlich an den Höfen der Könige
oder der mächtigen Herzöge von Burgund, Bretagne, Savoyen. Wie
hoch man hier die Poesie stellte, ergiebt die bekannte Anekdote,
dass Margarethe von Schottland, die Gemahlin Ludwig XL, des da-
maligen Dauphins, den Dichter Alain Chartier (1386-1458), den sie
im Vorzimmer schlafend fand, auf den hässlichen Mund küsste, weil
derselbe, wie sie ihrem Gefolge erklärte, so goldene Worte spreche.
Die Poesie war also geehrt und gepflegt, es schien eine neue Blüthe-
zeit für sie zu kommen. Allein diese aussere Gunst vermochte nicht,
ihr einen neuen Aufschwung zu geben, die Wärme der Empfindung,
die Kühnheit der Phantasie, welche der Dichtung des zwölften und
dreizehnten Jahrhunderts einen so grossen Reiz verliehen hatte, Ver-
schwand immer mehr. Die Gedanken jener Zeit lagen zwar auch
dieser neueren Poesie zu Grunde, sie bewegte sich ganz in den Be-
griffen des idealen Ritterthums, aber diese Begriffe hatten ihre be-
geisternde Kraft verloren, die Verehrung, die man ihnen zollte, war
nur eine äusserliche, conventionelle. Gerade jene scheinbar günstigen
Umstände hemmten "die Dichtung noch mehr. Die Verbindung mit
der gelehrten Bildung verwickelte sie in spitziindige, unfruchtbare
Unterscheidungen. Ihre Stellung zum Hofleben beschränkte die Frei-
heit der Bewegung, sie durfte kein grösseres Maass von Wahrheit,
Tiefe und Lebensfülle erstreben, als man am Hofe vertragen konnte.
Die Gunst des Hofes wurde das bewusste Ziel jedes strebenden Ta-
lentes, es war schon jetzt eine denkbare Kritik, dass ein Gedicht
nicht hoffahig sei (qu'il ayt mye air de cour). Die epische Dichtung
hörte ganz auf, die älteren Stoffe gingen in den breiten prosaisehen
Roman über, und die zahlreichen Reimwerke, welche sich mit der
Geschichte der Gegenwart beschäftigten, sind trockene, officielle Chro-
niken, höiisch vorsichtige Lobreden, ohne tieferes Interesse, oder end-
lich spitzfindige Abhandlungen in Form eines Dialogs. Die Allegorie
blieb nach wie vor beliebt; Martin Franc setzte in seinem Champion
des Darnes um 1450 noch einmal das ganze Personal des Romans
von der Rose in Bewegung, um die frivole Tendenz des ursprüng-
lichen Verfassers zu widerlegen und die Ehre der Damen gründlich
zu retten. In anderen Gedichten treten dann Ritter und Damen in
eigener Gestalt auf, aber immer nur redend, nicht handelnd; sie
treffen etwa in dem mehr oder weniger ausgemalten Locale eines
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