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Gebräuche, Literatur.
Sitten,
Hof, dann die französische Mode voranging und die übrigen Völker
mit geringen Abweichungen nachfolgten 1).
Wir sehen in der Tracht dieser Zeit mehr die unerfreulichen,
als die verheissenden Eigenschaften des Jahrhunderts. Die edle Ein-
fachheit der Blüthezeit des Mittelalters, selbst der kühne Schwung des
Avierzehnten Jahrhunderts, in welchem noch immer Spuren der idealen
Richtung zu erkennen sind, ist einer schwerfälligen, prunkenden Weise
gewichen. Das _Naturelement macht sich zunächst nur als Sinnlich-
keit und Materialismus geltend, das Ideale nur als Erstarrung und
leere Pratension, beide gehen in unharmonischer Verbindung neben
einander her. Nur in einem Zuge erkennen wir den Charakter der
Iieucn Zeit, in dem Vorherrschen des Individuellen. Gerade der
Mangel einer durchgebildeten, harmonischen Grundform, die Verbin-
dung von schwerfälligen und erstarrten Einzelheiten gestattete den
Individuen und trieb sie an, das ihnen Angemessene zu suchen, wo-
möglich ihren eigenen Charakter hineinzulegen. Der Gegensatz dieser
steifen und prunkenden Bekleidung des Körpers diente dazu, die
natürliche Anmuth und den Ausdruck des naiven Gefühls, den das
Antlitz gewährte, herauszuheben und wirksamer zu machen.
Wie Sitte und Tracht hatten auch die geistigen Aeusscrungen
überwiegend den Charakter des Steifen, Schwerfalligen, Ueberladenen.
Dies gilt nicht bloss von den Wissenschaften, die sich, wie wir sahen,
durchwegs in dem ausgefahrenen Geleise der Scholastik bewegten,
sondern auch von der nationalen Poesie. Die Umstände waren ihr
in gewisser Weise günstigf Der schroffe Gegensatz des Lateinischen
und der Vulgärsprac-he war bedeutend gemildert; die Laien waren
gebildeter geworden und Iingen an, auch an ihre Unterhaltung höhere
Ansprüche zu machen. Die Nationalpoesie wurde daher nicht mehr
in der naiven Weise wie sonst von Rittern und Landleuten betrieben,
die kaum schreiben konnten, sondern überwiegend von Männern, die
einige gelehrte Bildung besassen. Sie verlor den Charakter des Im-
provisirten, bloss im Gedachtniss behaltenen Mündlichen, büsste aber
auch den Ueberrest jugendlicher Frische ein, den sie noch im vier-
zehnten Jahrhundert gehabt hatte und wurde altklug und langweilig.
Dies war das Gemeinsame, während die Stellung und die Schick-
1) Erschöpfende Auskunft giebt der betreffende Band der "Costümkunde" von
Hermann Weiss; die Geschichte der 'l'racht und des Geräthes vom vierzehnten
Jahrhundert bis auf die Gegenwart. Stlittgart 1867. H.