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Charakterbildung des
Geistige Richtung und
15. Jahrhunderts.
dem Gefühl eigner Verantwortlichkeit erfüllt ist. Dies Gefühl war
aber bei der langen Gewohnheit fester Standesregeln und kirchlicher
Leitung ganz nnausgebildet geblieben und konnte gerade jetzt in der
Auflösung der hergebrachten Verhältnisse schwer erstarken. Die
Mischung alter und neuer Anschauungen brachte eine Verwirrung
der Begriffe hervor, in welcher Genusssucht und Eigennutz wucherten.
Der Kampf um die Gewalt erhielt bei dem Mangel politischer Ein-
sicht den Charakter eines Glücksspieles, machte die Menschen kühn,
begehrlich, zu grossen Erwartungen und Mlagnissen geneigt, aber
auch unruhig, schwankend, launenhaft. Bei dem Misslingen ihrer
Plane sind sie bald trotzig, bald verzagt, bei dem Mangel fester
sittlicher Begriffe halt Jeder sich für berechtigt, die Mittel, deren
Gebrauch er bei dem Gegner argwöhnte, auch gegen denselben an-
zuwenden. Die streitenden Parteien steigerten sich daher, gegen-
seitig, man gewöhnte sich mehr und mehr an Gewalt und Hinterlist,
an raffinirte Grausamkeit und Rachsucht, an Betrug nnd Verrath.
Viele waren so gewissenlos, dass sie alle Hülfsmittel, die einen Er-
folg versprachen, für erlaubt ansahen und zugleich so leichtgläubig,
dass sie den Erfolg, den sie wünschten, auch von den ungeeignetsten
Mitteln erwarteten. Man hielt krampfhaft an dem Wahne fest, auch
die schwersten Verbrechen durch Kirchenbussen und Absolution tilgen
zu können. Die Freiheit drohete allgemein in Zuchtlosigkeit umzu-
schlagen, und das Bewusstsein dieser Gefahr musste alle ernsten denken-
den Manner mit Betrübniss und Sorge erfüllen.
Aber auch bei der grossen Menge war die Stimmung, ungeachtet
der gesteigerten Wohlhabenheit und des geräuschvollen Lebensgenusses,
nichts weniger als heiter. Jene innere Ruhe, welche die Festigkeit
der Verhältnisse und die Gleichheit der Meinungen dem Mittelalter
gewährt hatte, war verschwunden. Der Gesichtskreis war bedeutend
erweitert, aber die Sehkraft des Auges war nicht entsprechend ge-
wachsen, gab der Seele trübe, unklare Bilder; die Charaktere waren
individueller, mannigfaltiger, aber schwankender geworden. Niemals
hat man sich abhängiger, verlassener gefühlt, als in dieser Zeit, wo
das Bewusstsein der Verkettung menschlicher Dinge und der Einwir-
kimg natürlicher und übernatürlicher Kräfte die Gemüther überfiel
und sie mit einer Scheu vor heimlichen Feinden und unbekannten
Mächten erfüllte. Die Phantasie war auf's Aeusserste gereizt und
sah überall Schreckgestalten; das Leben schwankte ZWlSChGII Hoff-
nungen nnd Besorgnissen, ZWlSCheIl Genuss und Gefahr und hatte
dadurch einen trüben Schein Daher die Neigung zu schwermüthigen
Betrachtungen, zu Einweisungen auf die Vergänglichkeit der mensch-