Volltext: Geschichte der bildenden Künste im 15. Jahrhundert (Bd. 8)

Philippe von Commines. 
Missbrauch der individuellen Freiheit. 
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die Richtung der Zeit; er weiss nichts von wahrhafter Grösse und 
kennt keine weltgeschichtlichen Ideen. Seine Weisheit ist, sich 
an das Nächste und Einzelne zu halten, Menschen und Ereignisse 
genau, sorgfältig und vorurtheilsfrei zu beobachten, sie sich mit allen 
Zufälligkeiten ihrer Erscheinung zu vergegenwärtigen und so den 
Gefahren, die uns drohen könnten, vorzubeugen. 
Eine Zeit hoher Begeisterung, grosser Ereignisse und grosser 
Charaktere würde auch eine andere Betrachtungsweise hervorgebracht 
haben. Fürgdie, in welcher er lebte, war sie die angemessene. Man 
hat oft die Bemerkung ausgesprochen, dass das fünfzehnte Jahrhundert 
überaus arm an wahrhafter Grösse gewesen; das ist vollkommen 
richtig, nur dass man dies nicht wie einen zufälligen Mangel, wie 
eine Art geistiger Missernte, sondern als eine nothwendige Folge der 
geschichtlichen Stellung des Jahrhunderts betrachten muss. Wahr- 
hafte Grösse gedeiht nur da, wo die leitenden Ideen zum Durch- 
bruche reif sind, wo es den begabten Menschen möglich ist, sich 
ihnen hinzugeben, den Moment zu verstehen, die rechten Mittel zu 
erkennen und sie mit der Energie gläubiger Ueberzeugung durchzu- 
führen. Sie setzt einfache, grossartige Verhältnisse voraus; entweder 
die Jugend der Völker, wo es gilt, das Ziel festzustellen und die 
Wege zu bahnen, oder die Zeit der höchsten Blüthe, wo die lange 
Vorarbeit beendet ist und des Abschlusses harrt. Dies Jahrhundert 
war weit entfernt von jener jugendlichen Einfachheit und keineswegs 
schon auf der Höhe der Entwickelung. Es war an den Ideen des 
Mittelalters irre geworden und doch nicht im Stande, sie durch neue 
zu ersetzen. Es mühete sich ab, theils mit überlieferten Formen, die 
ihre Bedeutung verloren hatten, theils mit neuen Vorstellungen, deren 
Tragweite man noch nicht kannte. In den Verwickelungen, die da- 
durch entstanden, bei dem Mangel leitender Ideen war der persön- 
lichen Anlage ein grösserer Spielraum gewährt; die individuelle Reg- 
samkeit, welche durch die religiöse Krisis entstanden war, zeigte sich 
auch in der Verschiedenheit und Originalität der Charaktere; das 
neu erwachte, von den Schranken mittelalterlicher Satzungen befreite 
Selbstgefühl regte sich mit jugendlicher Lust. Die Persönlichkeit war 
dadurch zu hoher Bedeutung gekommen; sie zu studiren war dem 
denkenden Beobachter wichtig, nicht blos um des praktischen Nutzens 
willen, sondern auch weil hier ein neues Geschenk war, in welchem 
man den Keim einer künftigen Entivickelung nicht verkennen konnte. 
Aber es fehlte viel, dass dies Geschenk ein unbedingt beglückendes 
war. Die individuelle Freiheit will erlernt sein; sie hat nur dann 
ihren vollen Werth, wenn sie auf sittlicher Basis beruht hnd von 
Schnauxsifs Kunstgesch. VIII. 3
	        
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