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Oharakterbildung
Geistige Richtung und
des
1 5. Jahrhunderts.
unter die königliche Gewialt standen im vollsten Einklange. Die
Ritterschaft begehrte nichts Anderes, als in aufopfernder Treue,
guter Sitte und Loyalität den anderen Standen als Vorbild zu dienen.
Und in der That drang auf diese Weise ritterliche Empfindung und
Poesie tief in das Volksleben ein; es konnte einen Augenblick scheinen,
als ob die Vorzüge des Mittelalters mit denen der neueren Zeit sich
friedlich vereinigen sollten. Es gibt keine Gestalt, an der sich dies
so anschaulich zeigt, als Jeanne d'Arc. Die religiöse Färbung ihrer
Begeisterung, ihre Visionen, überhaupt die stahlgerüstete Jungfrau
an der Spitze des Heeres versetzen uns in das Mittelalter. Aber
trotz ihres romantischen Reizes ware eine solche Gestalt in dem
wahren, geschichtlichen Mittelalter unmöglich gewesen; dies selbst-
ständige Ueberschrciten der Grenzen des Standes und des Geschlechts,
diese Mischung des Patriotischen und des Religiösen, dies Element
ritterlicher Kühnheit und Poesie bei einem einfachen Mädchen aus der
untersten Schicht des Volkes setzt eine freiere Bewegung des persön-
lichen Gefühls voraus, als es die mittelalterliche Stimmung gestattete.
Den stärksten Gegensatz nicht blos gegen diese edle, hoch-
poetische Erscheinung, sondern auch gegen die mehr conventionelle,
phantastische Sitte der französischen Ritterschaft bildet dann der
Begründer der französischen Monarchie, den wir schon früher be-
trachteten, Ludwig XI. In seinen verschlossenen, widerspruchs-
vollen Charakter einzudringen, ist eine der interessantesten psycho-
logischen Aufgaben. Wenn wir uns ihn vorstellen in der Einsam-
keit seines von Wäldern umgebenen Schlosses, fast nur in Gesell-
Schaft von Leuten niedrigen Standes, so schlecht gekleidet und so
sparsam lebend, dass seine Räthe ihm dagegen Vorstellungen machen
zu müssen glaubten, könnte man an eine geizige, beschränkte Natur,
wie die Friedrichs III. denkenl). Aber während dieser seine Zeit
mit harmlosen Spielereien ausfüllte und in der Politik kein anderes
Princip hatte, als das des Nichtsthuns und des zähen Festhaltens,
war Ludwigs rastloser Geist stets mit umfassenden, künstlich ange-
legten Planen beschäftigt, durch welche er die materielle Wohlfahrt
seiner Bürger fördern, die Grossen seines Reiches demüthigen, seine
Gegner überwachen und vernichten, seine fürstlichen Nachbarn über-
1) Wie dieser liebte er auch, sich gegen die Zumuthungen des Hochmuths und
der Pracht durch ein altkluges Sprüchwort zu schützen. Eines derselben, das uns
überliefert, ist so bezeichnend, dass es wohl eine Aniührung verdient: Quand
gueil chevauche, Honte et Dommage le suivent de pres. Goethe scheint (Ausgabe
letzter Hand, Band III. S. 239) bei einer der zahmen Xenien dies Sprüchwort vor
Augen gehabt zu haben.