Raymund von Sabunde.
Ausbildung
der Persönlichkeit.
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Die Thatsache, dass um diese Zeit der bis dahin schlummernde
Sinn für die Natur erwachte, findet einen anderen, sehr viel stärkeren
Beweis in den Kunstwerken, die wir später betrachten werden. Nicht
(larin-also liegt die Bedeutung jenes in der Vorrede des Raymundus
ausgesprochenen und von den Zeitgenossen so wohlgefällig aufge-
nommenen Gedankens, sondern darin, dass er uns den Ursprung
jener Naturliebe und die Schranken, in denen sie sich bewegte, er-
kennen lässt. Sie ging nicht von den Künstlern allein aus, sondern
war ein Gemeingut der Nationen, sie beruhte nicht auf der Freude
am sinnlich Reizenden, sondern auf dem Streben nach Wahrheit und
auf dem Bedürfniss des frommen Gefühls. Sie verhielt sich daher
zu dem religiösen Inhalt der Kunstwerke nicht wie ein ihm feind-
licher oder doch fremder Zusatz, sondern wie eine Ergänzung des-
selben. Sie war aber andererseits noch oberdächlich, ohne Kritik
und tieferes Studium. Dies bemerken wir in den Kunstwerken an
der, ungeachtet des sichtbaren Strebens nach Naturtreue, oft un-
glaublich mangelhaften Kenntniss der Körperformen, sowie der Ge-
setze des Lichtes und der Perspective. Wir finden es aber auch bei
Raymundus bestätigt, der in der Vorrede mit naiver Kühnheit neue
Gedanken ausspricht, deren 'l'ragweite er gar nicht übersieht und
um deren Consequenzen er sich im Verlaufe des Buchs gar nicht be-
müht. Es sind eben Anfange, bei denen man sichimit Wenigem begnügt.
Mit dieser Belebung des Naturgefühls hängt die erhöhte und
veränderte Bedeutung der Persönlichkeit zusammen. Sobald man
sich ilicht 1nel1r mit der Theorie begnügte, sondern die Menschen
beobachtete, musste man die Verschiedenheit der Charaktere wahr-
nehmen, und diese Verschiedenheit trat gerade jetzt durch die Ver-
änderung der Zeiten stärker wie je hervor. Selbst in der Geschichte,
und wenn man nur die benachbarten Jahrhunderte, das vierzehnte
und fünfzehnte, vergleicht, ist dies höchst auffallend. Bisher trugen
die Gestalten, selbst die hervorragenden, mehr oder weniger allge-
meine typische Züge. Sie erscheinen noch nicht in voller und freier
Individualität, sondern fast nur als Vertreter ihres Standes oder ihrer
Aufgabe. Auch da, wo ihre Thaten eine gewisse Grösse, Hochherzig-
keit, Begeisterung, Beharrlichkeit oder andere Eigenschaften darthun,
erhalten wir kein volles, anschauliches Bild von ihrem innern Wesen.
dJeder Versuch, sich ein solches Bild auszumalen, ist irreleitend; wir
fühlen sofort, dass es nicht zutrifft, dass es moderne, jener Zeit
fremde Züge angenommen hat. Die Geschichte des fünfzehnten Jahr-
hunderts dagegen zeigt uns sofort eine Fülle von höchst verschie-
denen, eigenthüinlichen Persönlichkeiten; sie hat in dieser Beziehung