Streben nach eigener Erkenntniss.
Erfindungen und Entdeckungen.
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Mittelalter gar nicht oder doch nur höchst vereinzelt vorgekommen
war. Aber freilich handelte es sich dabei nur um die Natur in ihrer
Beziehung auf menschliche Bedürfnisse, nicht um die innere objective
Erkenntniss ihrer Gesetze. Die Naturwissenschaft hielt mit diesen
praktischen Entdeckungen nicht gleichen Schritt, sie blieb im Wesent-
liehen auf dem bisherigen scholastischen Standpunkte. Einige Ge-
lehrte versuchten zwar beobachtend und experimentirend zu verfahren
und so bessere physikalische Resultate zu erlangen; schärfere Denker
sprachen schon tiefere Wahrheiten, die erst später vollständig er-
wiesen wurden, ahnend aus 1). Aber dies waren vereinzelte Gedanken,
die man nicht in Zusammenhang zu bringen vermochte, und die durch
die Mischung mit hergebrachten Vorurtheilen und durch die scho-
lastische Einkleidung, mit der man sie umgab, ungeniessbar und un-
fruchtbar wurden. Die Gewohnheit der Autorität war zu tief ein-
gewurzelt, als dass man einem Satze, der in heiligen Büchern oder
bei angesehenen antiken Schriftstellern vorkam, den Glauben ver-
sagen, die Kenntniss der Natur noch zu lückenhaft und die Kraft
eigener Beobachtung noch zu wenig geübt, als dass man solche Ueber-
liefernngen entbehren, oder auch nur sie kritisch sichten und berich-
tigen konntefKWeitschweiiigkeit, die als Gründlichkeit erschien, ver-
band sich mit innerer Oberiiächlichkeit. Man fragte noch immer
mehr nach der Zahl als nach dem Gewicht der Zeugnisse und stellte
in bunter Mischung Citate aus den verschiedensten Schriftstellern mit
unmittelbaren Erfahrungen und mit kühnen, durch vermeintlich lo-
gische Schlüsse aus beiden hergeleiteten Sätzen zusammen. Es ist
bekannt, dass dies noch bei der erfolgreichsten aller Deductionen,
bei der des Columbus, welche ihm die Mittel zur Entdeckung von
Amerika verschaffte, der Fall war 2).
Weit entfernt die Nebel der Vorurtheile zu zerstreuen, erzeugte
diese erste Dämmerung der Naturerkenntniss einen Aberglauben, der
um Vieles schlimmer war, als der des Mittelalters. Früher, wenn
man schädliche oder bedenkliche Erscheinungen dem Teufel zu-
schrieb, liess man es dahingestellt, wie er sie in's Werk gesetzt und
begnügte sich, ihm mit Hülfe der Kirche zu wehren. Beides gehörte
1) So namentlich Nicolaus von Cusa. die doppelte Bewegung der Erde u. A.
Vgl. Humboldt, Kosmos II. 140, III. 382; H. Ritter, Gesch. der Philos. IX. 159 ff.
2) "Sonderbares Zeitalter", ruft Humboldt im Kosmos aus, „in welchem ein
Gemisch von Zeugnissen des Aristoteles imd Averroes, unbestimmte Ausdrücke im
Buche Esra. und bei Seneca über die geringe Ausdehnung der Meere im Vergleich
zur Masse des festen Landes den Monarchen die Ueberzeugung von der Sicherheit
eines festen Unternehmens geben konnten!"