Hervortreten (des
Gefühls für Natur und Individualität.
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denthums, die auf ernste Durchführung nicht Anspruch machten und
mit der Gesinnung des Volkes keinen Zusammenhang hatten.
Wenn aber auch nicht in bewusstem Gegensatze gegen das Mittel-
alter, stand man doch nicht mehr auf dem Boden desselben. Die
Denkungsweise war unvermerkt verändert, so dass alle Handlungen
und Aeusserungen, selbst die, welche die Erhaltung und Herstellung
der früheren Institutionen bezweckten, eine Richtung annalnnen, die
der neuen Zeit zuführte. Das Wesentliche dieser Abweichung können
wir mit den Worten: Natur und Individualität andeuten. Das
System des Mittelalters beruhte auf der Tradition; es beachtete die
Natur nicht, fühlte kein Bedürfniss, dieselbe zu beobachten, ihren
Weisungen nachzugehen. Es hatte für alle Stände und Berufsarten
bestimmte Regeln, feste Ideale gegeben, welche freilich der Sub:
jectivität noch einen weiten Spielraum liessen, aber ihr doch den
Weg wiesen, auf dem sie zu wandeln hatte, und so den Genossen
desselben Standes eine gewisse typische Aehnlichkeit gaben. I1n spä-
teren Mittelalter war dies System bereits in manchen Beziehungen
gemildert, aber den stärksten Stoss erlitt es doch erst durch die re-
ligiöse Krisis und ihre Nachwirkungen im Anfange des fünfzehnten
Jahrhunderts. Als der Verfall der Kirche und mit ihr der aller
guten Ordnung Alle und zwar in ihren heiligsten Gefühlen und eigensten
Interessen bedrohte und beunruhigte, fühlte sich auch Jeder berufen,
mitzuwirken oder doch mitzurathen. Es war eine factische Emanci-
pation; man war, da das bisherige System wankte, darauf angewiesen,
sich nicht blos innerhalb desselben, sondern in der allgemeinen Natur
der Dinge nach Stützen für dasselbe umzusehen. Man begnügte sich
nicht mehr damit, die Gelehrten und Geistlichen zu befragen, son-
dern suchte selbst. Daher denn die jugendliche Regsamkeit des
fünfzehnten Jahrhunderts. Auf dem religiösen Gebiete hatte sie
ihren Anstoss erhalten, aber die Herstellung der Kirche war eine so
schwere Aufgabe, dass selbst die Mächtigsten und Gelehrtesten keine
Hoffnung erheblichen Erfolges hatten. Auf weltlichem Gebiete war
die Arbeit leichter und dankbarer, dahin wendeten sich mithin die
wachgerufenen Kräfte. In den westlichen Ländern wurden sie zu-
nächst (lurch die politischen Wirren in Anspruch genommen; in
Deutschland und Italien suchten sie nach anderen Aufgaben. Man
begann daher an den Dingen der nächsten Umgebung und besonders
des eigenen Berufes Kritik zu üben und nach Verbesserungen zu
streben, einzelne Erfolge ermuthigten und erzeugten eine wetteifernde
Thätigkeit, die um so reger wurde, weil es neue, bisher unbenutzte
Kräfte waren, die sich nun mit jugendlicher Lust bewegten. Daher