Volltext: Geschichte der bildenden Künste im 15. Jahrhundert (Bd. 8)

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Charakterbildung des 
Geistige Richtung und 
Jahrhunderts. 
jener schwärmerische liladonnenctiltus und jene romantische Frömmig- 
keit, welche eine so schöne Gestalt wie die Jungfrau von Orleans 
hervorbringen konnte. In England waren zwar die Anhänger Wiklefs 
keineswegs ausgestorben, aber sie bildeten keine mächtige Partei, 
um deren Gunst man sich zu bewerben brauchte, während die Kirche 
noch immer den streitenden Theilen als eine wünschenswerthe Bun- 
desgenossin erschien. Könige und Adel waren daher eifrige Ver- 
fechter der Orthodoxie, und nahmen keinen Anstand, jeden der 
Ketzerei Verdächtigen dem Märtyrertode zu unterwerfen. 
Tiefer wurden die Schäden der Kirche in D euts chlan d empfunden. 
Gerade hier, wo der religiöse Sinn schon im vierzehnten Jahrhundert 
durch die Mystiker erregt war, wo die Verhandlungen der Concile 
von Constanz und Basel die Gemüther mit religiösen Fragen an- 
haltend beschäftigt hatten, wurde das Erpressungssystem der römischen 
Curie rücksichtsloser geübt, war der Lebenswandel der Geistlichkeit 
anstössiger geworden, als in den anderen Ländern, wo ein starkes 
nationales Königthum und eine bessere ritterliche Sitte beiden Schran- 
ken setzte. Allein zu einer starken, volksthtimlichen Opposition kam 
es auch hier nicht. Die Gewaltthaten der Hussiten waren nicht ge- 
eignet, ihren religiösen Ansichten Anhänger zu verschaffen, und die 
weiche Stimmung mystischer Frömmigkeit, welche von ihren ursprüng- 
lichen Uebertreibungen gereinigt sich weit über die Nation verbreitet 
hatte, hielt vom offenen Widerstande ab und bewirkte, dass man sich 
an die leidende Kirche immer inniger anschloss und sich zu tieferer 
Andacht anzuregen suchte. Eine Betrachtung der populären deut- 
schen Literatur, auf die wir später eingehen müssen, wird deutlich 
zeigen, wie gross dies andächtige Bedürfniss selbst in den unteren 
Olassen des Volkes war. 
Auch gegen die ascetische Tendenz der Kirche bestand keine 
bewusste Opposition. Die Sitten waren zwar frei und üppig, die 
sinnliche Genusssucht gross. Aber das stand jetzt ebenso wenig wie 
in den früheren Jahrhunderten in einem Gegensatze, sondern eher 
in einem inneren Zusammenhange mit der ascetischen Richtung. Der 
Uebergang von sinnlicher Ausschweifung zu büssender Entsagung ist 
leichter als die Bekehrung zu einem geordneten sittlichen Wandel. 
Auch wurde die Askese schon längst so nachsichtig gehandhabt, (lass 
sie keine Opposition erweckte. Nur bei den italienischen Humanisten 
finden wir Spuren einer solchen; nicht blos frivole Gedichte, sondern 
auch eine Verherrlichung der Sinnlichkeit und Gedanken einer Eman- 
cipation des Fleisches. Aber das waren vereinzelte Aensserungen des 
Uebermuths junger Literaten, gewissermassenStudien antiken Hei-
	        
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