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Buch
Norden.
XVI.
Jahrhundert.
Aber auch in dieser höchsten Blüthezeit war Ziel und
Ende der nordischen Malerei von dem der italienischen
wesentlich verschieden. In Italien entfaltete sich eine reichste
Blüthe höchster, vollkommen schöner Kunstleistungen; hier
ward jene Wunderzeit des griechischen Alterthums wieder-
geboren, da die Schönheit dem Auge des Sterblichen sich
offenbarte, der göttliche Gedanke in vollendeter Gestalt sich
verkörperte, die höchste Würde des Menschen anschaulich
im Bilde dargestellt ward. Auch den Nordländern war
die Anlage zur Entwickelung und Gestaltung der Schönheit
nicht versagt; Wir haben in den Werken des romanischen
und des germanischen Styles mehrmals ein erfolgreiches
Streben nach ideal-schöner Auffassung nachgewiesen und
auch bei den Meistern des XV. Jahrhunderts die realistische
Auffassungsweise durch den Ausdruck einer „schönen Seele"
(man verzeihe dies Wort, das gerade hier bezeichnend ist)
auf eine höhere Stufe gehoben oder wenigstens eigenthüm-
lich durchbrochen gefunden. Dass nun gleichwohl diess höchste
Element der Schönheit nicht zur Reife gelangt, liegt an der
Uebermacht anderer geistiger Interessen und Richtungen.
In den Vordergrund tritt hier wiederum dasjenige Ele-
ment, welches man gewöhnlich mit. dem Namen des Phan-
tastischen bezeichnet. Es bildet einen Grundzug im
Charakter der nordischen Völker und ich möchte es am lieb-
sten aus der nordischen Natur erklären. Der heitre Himmel
des Südens, die klare durchsichtige Luft, die anmuthvollen
Linien seiner Bergziige, die plastischen Formen seiner Vege-
tation geben dem Aug' und dem Gemüthe des Beschauers
Ruhe und Befriedigung; nicht so die nordische Natur. Wo
der Himmel mit Wolken bedeckt ist, WO Nebel in den
Thälern treiben, wo. die Erde ein halbes Jahr lang ihres
Schmuckes beraubt ist und im Schlummer liegt, da wird das
Gemüth zu eigner Thätigkeit angereizt, und es bevölkert den
öden Raum mit selbstgeschafienen Gebilden. Daher die Mähr-
chen des Nordens, welche Italien und Griechenland nicht
kennen und welche auf einer von den Mährchen des Orients
so bedeutend verschiedenen Grundlage beruhen. Daher die