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Buch
Norden.
Jahrhundert.
aus Archiven als aus der gleichzeitigen Literatur zu gewin-
nen; die Kunst war für die Schreibenden offenbar kein
Lebensinteresse mehr, sie stand in einem ganz andern Ver-
hältnisse zur Bildung als in Italien.
Bleiben wir vor der'Hand bei der Betrachtung des XV.
Jahrhunderts stehen. Der Uebergang aus dem germanischen
Idealismus in den oft sehr schroffen und herben Realismus
vollzog sich mit überraschender Schnelligkeit; nur dass die
Grundlage des erstern, die Welt der Stimmungen, auch im
letztern immer Wieder zum Vorschein kömmt. Man mag in
der scharfen, selbst tief in's Unschöneü) und (sit venia
verbo) Philiströsc gehenden Individualisirung, in der lieissi-
gen Durchfühgung aller Nebendinge eine Verwandtschaft
finden mit der prosaischen Verständigkeit, dem volks-
thümlichen Witz in der damaligen Literatur und Poe-
sie, ja wielleicht mit derjenigen Richtung auf das Prak-
tische iund Neue, welche in jener Zeit zur Erfindung des
Bücherdruckes führte; immer aber geht ein phantastischer
Geist nebenher, welcher dem Kunstwerk zwar bisweilen seinen
höchsten Reiz verleiht, ihm aber auch den Stempel eines will-
kürlichen, postulirten Daseins aufdrückt. Er ist es, Welcher
die nordische Malerei z. B. in allen Fragen der Perspective
(mit Ausnahme der Flandrer) auf der allerkindlichsten Stufe
festgehalten hat, welcher sie in dem bunten F arbenkampf, in
der Bevorzugung des Untergeordneten ein künstlerisches
hlotiv finden liess, Welcher sie endlich für das Wilde und
Burleske unempfindlich machte. Vielleicht wird man in der
damaligen spätgothischen Baukunst eine ähnliche Vereinigung
des trocken Verständigen mit einem phantastischen Reichthum
erkennen; während manches Einzelne von seiner ursprüng-
lichen (organischen und plastischen) Bedeutung abgelöst, der
Gegenstand eines scharfen, trockenen, schematischen Linien-
spieles wird, zeigt sich anderwärts eine verwirrende Fülle
freier Verzierung, ein vegetabilisches Aufblühen im Stein,
welches sich recht nach der Weise dieses Jahrhunderts
nicht mehr mit dem architektonisch Nothwendigen begnügt.