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Einseitigkeit
der Ausbildung.
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messenheit. Doch im Augenblick der mächtigsten Entwicke-
lung tritt mit den Kämpfen der Reformation eine gewaltige
Wendung der geistigen Interessen ein, welche alles Grgsge
und alle Begabung der Nation in ihren Kreis hinein zieht
und die Kunst ihrer wichtigsten Kräfte beraubt"). Parallel
damit hatte die humanistische Zeittichtung die Künstler auf
Italien und auf die Antike hingewiesen und ein plötzliches
Nachholen des versäumten veranlasst, welches die Malerei
innerlich halbirte und mehr ihre Unfreiheit zu Tage brachte
als eine wahre Befreiung bewirkte. Schon bald nach der
Mitte des XVI. Jahrhunderts verschwinden in der deutschen,
Malerei auch die letzten irgend bedeutenden Individualitäten;
was in den Niederlanden und anderswo fortlebt, ist nur par-
tiell erfreulich und meist von Italien abhängig.
Die Ueberlieferung ist auch für diese Periode erstaun-
lich lückenhaft- Im XV. Jahrhundert kommen die Kunst-
nachrichten neben der Masse der noch jetzt vorhandenen
Kunstwerke kaum in Betracht: eine gewisse Art von fort-
laufender Tradition giebt es nur für die Niederlande, wäh-
rend für Deutschland wenig mehr als einzelne Namen und
Jahrzahlen vorhanden sind. In Frankreich fehlt nicht nur
die Kunstgeschichte, sondern selbst die wesentlichsten Denk-
mäler, Tafelbilder und Fresken; ebenso in England. Selbst
für das XVI. Jahrhundert ist die geschriebene Kunde mehr
ü) Ich wünsche hier wie im Obigen (vgl. Bd. 1., S. 389), nicht miss-
verstanden zu werden. Die Parallele der nordischen Kunst des XV.
Jahrhunderts mit der italienischen hatin einem übersichtlichen Werke
ihre Berechtigung; sie zu unterdrücken wäre eine Unbilligkeit gegen
die italienische Kunst. Auch wird die folgende Darstellung zeigen,
(lass wir bei den nordischen Malern ebensosehr auf den ihnen eigen-
thümlichen Standpunkt einzugehen suchen als bei den italienischen.
Was sodann das Verhältniss der Kunst zur Reformation betrifft, S0
wird man mir nach dem Bisherigen wohl zutrauen, dass ich nicht
Unmessbares gegen Unmessbares abwägen, sondern die Dinge in ihrer
Welt-geschichtlichen Grösse und Nothwendigkeit zu erkennen suchen
werde. Nur liegt es nicht in unserer Aufgabe, den ungeheuren geistigen
Ersatz nachzuweisen, welcher dem Norden für die sinkende Kunst zu
Theil wurde. B.