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Buch IV.
Norden.
Jahrhundert.
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das ganze XV. Jahrhundert hindurch nicht über das von
der flandrischen Schule Geleistete hinausgekommen, ja inner-
halb derselben steht Johann! van Eyck in gewissen Dingen
allein; die Kunstmittel, welche er so ausserordentlicl1 ver-
mehrt hatte, schreiten lange Zeit eher rückwärts als vorwärts,
indess in Italien Schule- auf Schule entsteht, deren jede ein
neues Princip der Darstellung entwickelt. Zunächst und am
meisten fällt die grosse Ungleichheit der Durchbildung auf;
in einzelnen Dingen erstrebt die Kunst die höchste Natur-
genauigkeit, während ihr in andern Beziehungen, namentlich
was den Gesammtorganismus des Körpers betrifft, das Aller-e
nothwendigste verschlossen bleibt. Grosse Talente treten
auf; sie schaffen Charakterköpfe voller Schönheit und Würde,
sie offenbaren riefsinnige und phantasiereiche Intentionen, sie
beuten die Umgebungen des Lebens mit eigenthümlicher-
Poesie, mit gewaltigem Humor aus; aber in der Dar-
stellung des Lebendigen, des organisch Bewegten gehen we-
der die rlandrische Schule noch die von ihr abhängigen
Deutschen des XV. Jahrhunderts wesentlich über Johann
van Eyck hinaus und die meisten bleiben hinter ihm zurück.
Die Gestalt ist und bleibt ein conventionelles Schemen ohne
wahre Lebensfähigkeit; höchstens werden Hände und Füssie
sorgfältig und naturwahr behandelt; sonst knüpft sich der
ganze innere Reichthum des Malers an den Ausdruck der
Gesichtszüge und an die phantastische Behandlung des Ein-
zelnen. Dass selbst innerhalb dieser Beschränkung Grosses
zu leisten war, wird u. a. bei Martin Schön nachzuweisen
sein, bei welchem die Anfänge einer höhern dramatischen
Belebung, eines tiefern Gefühls für Composition nachdrück-
licher hervortreten als bei irgend einem seiner flandrischen
Zeitgenossen. Aber erst mit dem Ende des Jahrhunderts,
mit Dürer und Holbein beginnen von einer ganz andern
Seite aus: als bei den Van EYckis, erfolgreichere Bestrebun-
gen nach einer harmonischen Durchbildungg- die gefesselten
Geister scheinen auf einmal zu erwachen; man lernt den
Körper kennen und in seiner schönen Lebendigkeit darstel-
len; die Anordnung erreicht die schönste Freiheit und Ge-