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Buch III.
Italien.
XVI.
Jahrhundert.
Tizian.
203.
als der vorzüglichste Portraitmaler vielfach geehrt. Papst
Paul III. lud ihn nach Rom; besonders aber war es Kaiser
Karl V., der ihn vielfach beschäftigte und den er. sogar
zweimal in Augsburg besuchen musste. (Ob er nach Spa-
nien gekommen sei, ist sehr zweifelhaft.) Er starb 1576, in
seinem neun und neunzigsten Jahre, an der Pest.
Schon in der Wahl seiner Gegenstände ist Tizian un-
streitig der vielseitigste Maler seiner Schule, ja es giebt kaum
eine Gattung der Malerei, welche er nicht in seinem langen,
überaus thätigen Leben durch hohe Leistungen gefördert
hatte. Allein wir baben bereits erwähnt, dass diejenige
Richtung, welche in Venedig Kunst und Leben beherrschte,
von der ilorentinisch-römischen bedeutend abwich, und so
liegt auch der Schwerpunkt von Tizians Grösse anderswo
als_bei Leonardo, Michelangelo und Rafael. Grosse, sym-
bolisch bezugreiche Compositionen, in welchen schon die An-
ordnung ein höheres geistiges Factum darzustellen hat, sind
von ihm nicht vorhanden; auch auf Schärfe der Charakte-
ristik, auf gewaltige Entwickelung der Form, selbst auf ideale
Schönheit geht er nicht direkt aus obwohl ihm diess
Alles in hohem Grade zu Gebote steht; was er aber von
seinem ersten bis zu seinem letzten Bilde erstrebt und oft
im edelsten Sinne erreicht hat, ist nicht weniger gross und
ewig als die Leistungen Jener. Das, was beim Giorgione
noch als der Ausdruck einer herben glühenden Kraft er-
schienen war, löst sich hier und gewinnt das Gepräge einer
freien, offenen und heiteren Schönheit, einer schönen und
edlen Menschlichkeit. Von Tizian _gilt es vornemlich, was
ich im Allgemeinen über die den Venetianern eigenthüm-
liche Richtung gesagt habe. Er ist es, dessen Gestalten das
vollkommenste Bewusstsein, den höchsten Genuss des Da-
Seins abspiegeln. Eine selige Befriedigung, so ähnlich
den _Marmorbildern des griechischen Alterthums und doch
wiederum so verschieden, ein ruhiges Genügen, eine har-
monische, gleichmässige Existenz spricht sich überall in
ihnen aus. Darum wirken sie so wohlthuend auf das Ge-
miith des Beschauers, darum theilen sie ihm , obgleich sie