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Buch UI.
Italien.
XVI. Jahrhundert.
Rafael.
184.
heit zugleich eine allgemeine Idee, eine Weltansicht aus-
spricht. Hier vornehmlich ist es die Tiefe und die Kraft des
Gedankens, wovon der Beschauer bewegt wird und welche
unmittelbar, ohne dass er eines Schlüssels zur Auflösung des
Inhalts hedürfte, aus dem Bilde zu ihm spricht. Das Bild
zerfällt in zwei Theile, von denen der untere der Masse nach
als der bedeutendere und vorherrschende erscheint. Hier
sieht man auf der einen Seite des Bildes neun von den Jün-
gern des Herrn versammelt; zu ihnen drängt von der andern
Seite eine Schaar Volkes herein, welches einen besessenen
Knaben mit sich führt. Der Knabe, dessen Glieder von dä-
monischer Gewalt krampfhaft verzerrt. sind, wird von den
Armen des Vaters gehalten, der mit Wort und Blick gewalt-
sam Hülfe zu fordern scheint; zwei WVeiber zu seinen Sei-
ten, von denen die hintere mit rührender Bitte, die andre, im
nächsten Vorgrunde auf die Knies niedergeworfen, mit leiden-
schaftlichem Ungestüm auf das Leiden aufmerksam macht.
Alle rufend, bittend, flehend, die Arme nach Hülfe aus-
streckend. Bei den Jüngcrn, die in verschiedenen Gruppen
zusammengeordnet sind, wechselt Staunen, Entsetzen und
Mitgefühl in den mannigfachsten Graden. Einer, dessen zar-
tes, jugendliches Antlitz die innigste Theilnahme ausdrückt,
wendet sich zu dem unglücklichen Vater, das eigne Unver-
mögen zur Hülfe deutlich bezeichnend; ein andrer neben ihm,
weist nach oben empor, noch ein andrer wiederholt diese Ge-
berde. Der obere Theil des Bildes wird durch eine Anhöhe
(zur Bezeichnung des Berges Tabor) gebildet; dort liegen
die drei Jünger, die Christus mit hinaufnahm, von dem gött-
lichen Lichte geblendet; und über ihnen, von wunderbarer
Glorie umflossen, schwebt der Heiland in ruhiger Seligkeit,
Bloses und Elias zu seinen Seiten, wie durch magnetische
Kraft zu ihm hingezogen. Die Doppelhandlting des Bildes,
an welcher nüchterne Kritiker Anstoss genommen, erklärt
sich historisch zur Genüge, sofern eben jene Begebenheit mit
dem besessenen Knaben in der Abwesenheit Christi verging;
aber sie erklärt. sich noch ungleich bedeutender, wenn wir
_-den tieferen allgemeingültigen Inhalt des Bildes berücksich-